Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ vom 28.08.2023
Der Vertrauensverlust, der derzeit in Gesellschaft und Wirtschaft im Zusammenhang mit den regulatorischen Maßnahmen zur Energiewende eintritt, ist beachtlich. Die Folgen sind eine Beschleunigung der Tendenz zu den politischen Extremen und in der Wirtschaft der Verzicht auf Investitionen bzw. deren Verlagerung ins Ausland. Vom Gebäudeenergiegesetz (GEG) bis zu den Ausbauplänen für die Produktion und den Import von Wasserstoff verbreitet sich zunehmend die Überzeugung, dass es „so nicht geht“. Das Wissen um Fachkräftemangel und begrenzte Produktionskapazitäten tragen dazu bei. Ein wesentlicher Grund dürfte aber auch darin liegen, dass im Rahmen der Energiewende zu häufig Prinzipien nicht eingehalten werden, die allgemein als vernünftig und notwendig angesehen werden, wenn ein als wichtig erachtetes System grundlegend geändert wird:
- essenzielle Komponenten des bestehenden Systems dürfen nur in dem Umfang aufgegeben werden, wie sicher funktionierender Ersatz vorhanden ist und
- das System darf nur zusätzlichen Anforderungen ausgesetzt werden, wenn es vorher bzw. synchron dazu entsprechend ertüchtigt wird.
Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen.
Die Versorgungssicherheit sinkt aufgrund des kontinuierlichen Rückgangs an gesicherter Kraftwerksleistung
Die Höchstlast im deutschen Netz betrug in den letzten Jahren regelmäßig etwas über 80 GW, sie wird im Rahmen der Energiewende allerdings deutlich ansteigen. Um diesen Höchstverbrauch zuverlässig decken zu können, muss eine steuerbare Kraftwerksleistung vorgehalten werden, die bei voller Funktionsfähigkeit diese Höchstlast plus eine Sicherheitsreserve für Ausfälle aller Art abdeckt. Die vorhandene Leistung aus konventionellen Kraftwerken ging von 2020 bis Ende 2022 um 9 GW auf dann noch 96 GW zurück – im Wesentlichen bedingt durch den Kohleausstieg. Im Dezember 2022 mussten daher die Erdgaskraftwerke trotz Erdgasmangellage auf einem historischen Höchstniveau produzieren und gleichzeitig bis zu 5 GW importiert werden – obgleich gesetzlich der Einsatz aller Notreserven ermöglicht worden war. Mit den letzten Kernkraftwerken ging dann nochmals eine Kapazität von 4 GW verloren. Weitere 2 GW an Braunkohle-Reservekraftwerken gingen Ende Juni vom Netz. Es werden also im kommenden Winter nochmals zwischen 4% und 6% weniger gesicherte Leistung als im vergangenen verfügbar sein. Der Ausbau von Wind und PV ändert daran nichts: Deren Erzeugungsminimum lag in den letzten beiden Halbjahren unter 1 GW, ohne Stromspeicher (deren baldiger Ausbau sowohl technisch als auch kommerziell unrealistisch ist), nützen sie also im Ernstfall wenig. Der Abbau der Sicherheitsreserven soll sich ab nächstem Jahr noch weiter beschleunigen: Laut Bundesnetzagentur stehen im Zuge des fortschreitenden Kohleausstiegs bis 2025 weitere fast 12 GW zur endgültigen Stilllegung an. Dass auch nur ein einziges der geplanten 50 zusätzlichen Gaskraftwerke in diesem Zeitraum ans Netz geht, ist extrem unwahrscheinlich, und sich an dieser Stelle ohne konkrete Vereinbarungen auf das Ausland zu verlassen, wäre jedenfalls fahrlässig. Denn auch dort wird gesicherte Stromerzeugungskapazität eher knapp. Wenn die Versorgungssicherheit nicht weiter absinken soll, darf also keine weitere gesicherte Kraftwerksleistung vom Netz gehen, ohne dass dies durch andere gesicherte Kraftwerksleistung kompensiert wird. Der vorläufige Verzicht auf eine weitere endgültige Stilllegung von Kohlekraftwerken steht einer weiteren Reduzierung der CO2- Emissionen im Stromerzeugungsbereich auch keineswegs entgegen, da Strom aus Wind und PV ohnehin aufgrund der niedrigen variablen Kosten die Laufzeit der fossilen Kraftwerke immer weiter verringert. Deren Kapazität muss erhalten bleiben, bis entsprechender Ersatz vorhanden ist – notfalls auch mit staatlicher Unterstützung.
Das Strommarkdesign hat ausgedient – wo bleibt der Ersatz?
Die Anzahl der Stunden mit negativem Strompreis an der Börse näherte sich im Juli einem Anteil von 10%. Sie traten regelmäßig dann auf, wenn die erneuerbare Stromerzeugung den Gesamtverbrauch überstieg. In Zeiten negativer bzw. sehr niedriger Preise wurden bis zu 15 GW exportiert, bei hohen Preisen wurde bis zum selben Umfang importiert – sehr vorteilhaft für unsere Nachbarländer. Der Unsinn, dass selbst bei negativen Marktpreisen die Einspeiser von EE-Strom noch eine Marktprämie erhalten, wurde – zumindest für Zeiträume ab 4 Stunden – zwischenzeitlich behoben. Nicht so jedoch bei den stark zunehmenden kleineren PV-Anlagen mit fester Einspeisevergütung: Selbst bei einem Marktpreis von minus 100 EUR/MWh erhält der private „Prosumer“ derzeit für den Überschuss aus seiner PVAnlage noch 82 EUR/MWh ausgezahlt, d.h. es entstehen in Summe Kosten von 182 EUR/MWh für diesen nicht benötigten Strom, die auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Der aktuelle Zubau an PV von durchschnittlich rund 1 GW pro Monat wird diese Schieflage weiter verschärfen: Für ein effektives Gegensteuern wäre der Einbau von Smart Metern erforderlich, der aber – Stichwort Infrastruktur – kaum vom Fleck kommt.
Diese Entwicklung war keineswegs überraschend, sondern absolut sicher prognostizierbar.
Fernleitungsbau massiv im Verzug – bislang keine Besserung in Sicht
Die regelmäßigen Monitoringberichte zeigen, wie massiv die im Energieleitungsausbau- und Bundesbedarfsplangesetz (EnLAG und BBplG) als unbedingt notwendig vorgeschriebenen Ausbauprojekte des Übertragungsnetzes zeitlich im Verzug sind: Von den im EnLAG 2009 definierten 7 Projekten über 100 km Länge sind fünf aktuell noch im Bau und sollen erst zwischen 2024 und 2027 fertiggestellt werden. Einige der in den Gesetzen definierten Projekte wurden seinerzeit explizit als Voraussetzung für die Stilllegung der süddeutschen Kernkraftwerke genannt – die Kernkraftwerke wurden stillgelegt, obwohl die Leitungen fehlten. Die Folge: Eine massive Zunahme der Leitungsengpässe sowie die zunehmende Notwendigkeit kostspieliger Redispatchmaßnahmen und Vorhaltung von Reservekraftwerken im In- und Ausland, die die Netzentgelte nach oben treiben. Der weitere Ausbau von Windkraftanlagen vornehmlich im Norden verschärft die Engpass-Situation weiter, weil sich die Perspektiven für den Netzausbau laut Monitoringberichten trotz aller optimistischen Ankündigungen noch nicht verbessert haben: Seit Ende 2021 ist die geplante Inbetriebnahme für die teilweise noch weit in der Zukunft liegenden Projekte in keinem einzigen Fall zeitlich nach vorne verlagert worden. Auch hier liegt die Schlussfolgerung klar auf der Hand: Der Ausbau der Infrastruktur muss einerseits mit aller Intensität beschleunigt werden, gleichzeitig muss aber der Zuwachs an Windenergie an das Tempo des Infrastrukturausbaus angepasst und, falls notwendig, entsprechend begrenzt werden.
Wärmepumpen und Ladestationen – bei den Ortsnetzen klemmt es
Zu Beginn des politischen Prozesses zur Novelle des GEG wurden Entwürfe bekannt, die bei den eigentlich profitierenden Heizungsbauern zu verständnislosem Kopfschütteln und den betroffenen Hausbesitzern zu massiver Verunsicherung führten – etwas mehr Diskussion und vor allem Konsultation im Vorfeld hätte dies sicher verhindern können. Demnächst soll nun eine verbesserte Fassung verabschiedet werden, die aber wiederum eine wesentliche infrastrukturelle Voraussetzung ignoriert bzw. auf später verschiebt: Bereits installierte Wärmepumpen können wegen drohender Netzengpässe teilweise nicht angeschlossen werden, weil die Ortsnetze nicht dafür ausgelegt sind, eine größere Anzahl von Wärmepumpen und Ladestationen zu verkraften. Immerhin geht es hier um eine Vervielfachung der Spitzenlast bestehender Haushalte, die noch dazu weitgehend gleichzeitig angefordert wird. Erst jetzt kommen Überlegungen in Gang, wie man den Ortsnetzbetreibern diesbezüglich einen „vorsorglichen“ Netzausbau ermöglicht, sie ggf. sogar dazu verpflichtet. Das hätte natürlich viel früher passieren müssen – nun ist eine Festlegung der BNetzA in Vorbereitung, gemäß der ab 2024 unter bestimmten Voraussetzungen eine temporäre Leistungsbeschränkung für Wärmepumpen erfolgen kann. Dass es das Vertrauen bei den Hauseigentümern nicht stärkt, wenn sie zunächst erfolgreich zur Installation von Wärmepumpen gedrängt und dann mit Stromrationierungen konfrontiert werden, liegt auf der Hand.
Plädoyer für eine handwerklich bessere Energiewende
Es muss und wird sich die Einsicht durchsetzen, dass das „Megaprojekt Energiewende“ in verstärktem Maße denselben Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie jedes andere Großprojekt. D.h. es muss mit Zeitverzögerungen gerechnet werden, die nicht immer durch verstärkte Anstrengungen kompensiert werden können. Zentrale Voraussetzungen für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft wie Versorgungssicherheit, Verfügbarkeit und internationale wettbewerbsfähige Strompreise müssen den zeitlichen Rahmen auch für den Umbau der Energieversorgung vorgeben. Der Ausbau der Infrastruktur muss daher im Vergleich zum Ausbau alternativer Energien deutlich an Aufmerksamkeit gewinnen. Aktivitäten, deren Auswirkungen nicht konsequent durchdacht und durch vorherige Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen abgesichert werden, müssen ein No Go sein. Andernfalls kommt es zwangsläufig zu einem weiteren Auseinanderdriften der Gesellschaft an die politischen Ränder, und die bereits deutlich beschädigte Investitionsbereitschaft in der Industrie würde nachhaltig negativ beeinflusst – mit der Folge einer zunehmenden Deindustrialisierung.