Zeitenwende an der Ostflanke

Artikel aus dem Handelsblatt Journal Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie vom 16.2.2024

Was kann die Bundeswehr von der Ukraine lernen?

Seit dem 24. Februar 2022 muss sich die Ukraine gegen Russland verteidigen, das vor zwei Jahren völkerrechtswidrig in das Land eingedrungen ist. Es ist der größte Konflikt in Europa seit 1945. Und jenseits der kaum beschreibbaren Tragik ist der Krieg für uns eine Lehre darüber, was Landes- und Bündnisverteidigung heute bedeutet und welcher Bedrohung unser Land gegenübersteht.

1. Kriegstüchtigkeit – eine richtige Forderung
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius will die Bundeswehr kriegstüchtig machen, um Russland von einer Invasion abhalten zu können. Er gibt Deutschland hierfür fünf bis acht Jahre und schaut sorgenvoll auf Tausende Kilometer „heißer“ NATO-Ostflanke zum Aggressor Russland. Hier fehlt es anders als im Kalten Krieg an allem, um sie konventionell zu schützen: an Personal, modernen Waffensystemen,  Munition. In den nächsten Jahren reicht es nicht, die Bestellliste für die größten Waffensystemlücken der Truppe abzuarbeiten. „Kriegstüchtig“ kann sie nur werden, wenn sie sich an den modernen  Anforderungen des Kriegs orientiert.

2. Kriegstüchtigkeit lernen heißt von der Ukraine lernen
Die Ukrainer wissen bereits, was der Westen erst langsam lernt: Putin hat sein Reich auf Kriegswirtschaft umgestellt, allein 2024 wird es mindestens sechs Prozent des BIP für Rüstung ausgeben. Damit erreicht zum Beispiel die russische Produktion von Artilleriegranaten doppelt so hohe Zahlen wie der Westen. Russland bezieht auch im großen Stil Material aus Nordkorea und dem Iran. Trotz Sanktionen ist auch immer wieder westliche Technologie für diese Länder verfügbar. Damit ergibt sich eine personelle und materielle Überlegenheit Russlands, deren Ende nicht absehbar und durch konventionelle Produktion nicht aufholbar ist.

Die Ukraine beweist aber auch seit zwei Jahren, wie ein russischer Angriff abgewehrt werden kann: mit Technologie. Während sie taktisch beispielsweise das dynamische Artilleriefeuer einübte, wurden Drohnen beschafft und neue Software-Systeme entwickelt. So konnten Aufklärung und Artillerie digital vernetzt und die Reaktionszeit, im Militär spricht man von einer Wirkkette, auf drei bis vier Minuten reduziert werden. Hierbei geht es zum einen darum, dass zwischen der Aufklärung eines Zieles (beispielsweise ein feindlicher Gefechtsstand) und dessen Bekämpfung möglichst wenig Zeit vergeht. Zum anderen erlaubt es den eigenen Artilleriekräften einen zügigen Stellungswechsel, um nicht selbst Ziel gegnerischen Feuers zu werden. Dabei machen nicht Stunden, sondern wenige Minuten oder gar Sekunden einen Unterschied zwischen Leben und Tod, zwischen Abschreckung und Invasion. Heute verfügt die Ukraine aufgrund ihrer Erfahrungen über 70 verschiedene Drohnenfirmen und nutzt verschiedene softwarebasierte  Echtzeitsysteme, die zunehmend durch Künstliche Intelligenz (KI) gestützt werden. Das sind weit mehr als nur taktische Details, denn die Summe dieser technologischen Fortschritte verändert das strategische Kalkül.

3. Abschreckung gelingt nur, wenn unsere Systeme klüger sind als die des Gegners
Das Beispiel Artilleriemunition beweist: Überlegenheit durch Masse wird kurz- und mittelfristig nicht gelingen. General Valery Zaluzhny, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, hat im Economist im November jedoch dargelegt, dass selbst bei zahlenmäßiger Überlegenheit des Gegners Verteidigung gelingen kann, wenn Hardware mit überlegener Technologie kombiniert wird.

Aus dieser Erfahrung im Krieg können wir lernen, denn Demokratien und offene Gesellschaften haben eine besondere Stärke: ihre Innovationsfähigkeit. Diese produziert einen Technologievorteil. Auch deutsche Firmen wie Helsing als KI- und Softwarefirma oder der Drohnenhersteller Quantum Systems beliefern die Ukraine mit neuen Technologien – die Lehren vom ukrainischen Gefechtsfeld finden also direkten Einzug in die deutsche Industrie. Das beweist: Schon jetzt sind diese Technologien auch für die deutsche Bundeswehr verfügbar.

4. Der beschleunigte Einsatz von KI skaliert
Ressourcen – und ist moralisch geboten Glaubwürdige Abschreckung und Kriegstüchtigkeit an der Ostflanke verlangen den Einsatz modernster Technologie, insbesondere KI. Sie kann den menschlichen Faktor skalieren, ihn also effektiv in Aufklärung, Entscheidung und Wirkung ergänzen. Der Umgang mit KI verlangt dabei hohe ethische Standards – NATO, Streitkräfte und Unternehmen wie Helsing bekennen sich zu diesen Standards und verantwortlicher KI. Auch in China, Russland und Iran werden KI-Systeme  entwickelt – ohne Standards und ethische Überlegungen. Wenn wir verhindern wollen, dass diese Länder bei der Nutzung von KI Vorteile gegenüber dem Westen erlangen, müssen wir unsere Anstrengungen dringend beschleunigen.

Für Deutschland heißt das: Wir können nicht nochmal die letzte Nation sein, die innovative Technologie auch im Militär einführt. So war es bei Kampfdrohnen, die bei der Bundeswehr Jahrzehnte zu spät eingeführt werden. Das darf sich nicht wiederholen.

5. Wir müssen die bestehenden Systeme mit Software und KI nachrüsten
Boris Pistorius gibt unserem Land fünf bis acht Jahre für die Nachrüstung. Für Hardware-Beschaffung  würde das bedeuten, mit der sagenhaft schnellen Warp-Geschwindigkeit aus der Science-Fiction-Serie Star Trek voranzukommen. Dennoch – für einen Technologiesprung reicht die Zeit: Die Einrüstung von Software und KI in bestehende Systeme braucht, auch das zeigt die Ukraine, nur wenige Monate. Mit modernen Softwaresystemen, die über Truppengattungen hinweg genutzt werden, hat die Ukraine Interoperabilität, Schnelligkeit und Agilität erreicht. Trotz teilweise zwölffacher zahlenmäßiger Unterlegenheit gewann sie so immer wieder lokale Überlegenheit. Dies ist auch in Deutschland möglich und längst überfällig. Mit Technologie könnte die Bundeswehr auch eine besonders schwierige Herausforderung meistern: Die vorhandenen Altsysteme sind äußerst verschieden und nicht interoperabel. 80 Prozent der heutigen Altsysteme werden aber auch 2030 noch im Einsatz sein. Software kann dabei helfen, dass auch alte Systeme zu einer schlagkräftigen Einheit zusammenwachsen. Die Ukraine hat auch das vorgemacht.

6. Einmal KI-befähigt, können Upgrades dauerhaft neue Abschreckungsvorteile erzeugen
Die Gefechtsfelder von heute sind geprägt vom Kräftemessen moderner Technologie. Als es  beispielsweise dem russischen Militär gelang, den Zugang der Ukraine zu GPS im Frontbereich massiv zu stören, musste die Ukraine in kürzester Zeit alternative Navigationsdienste für ihre Gefechtsfeldaufklärung bereitstellen. Insbesondere Softwaresysteme, die auf KI basieren, ermöglichen es hier, Schritt zu halten. Einmal eingerüstet können Fähigkeiten innerhalb weniger Wochen ergänzt oder verbessert werden.

Fazit: Das Zeitalter für KI ist jetzt – es braucht dafür entschlosseneres Handeln Mit Blick auf diese  eindeutigen Erfahrungen stellt sich die Frage, weshalb die Bundeswehr bis heute so wenig Zugang zu Investitionen in Software und KI findet. „Neuland“, wie die ehemalige Kanzlerin einmal das Internet bezeichnete, sind diese Themen nicht. Auch fehlt es nicht an der Erkenntnis – hochrangige Vertreter der Streitkräfte sprechen immer wieder von der Notwendigkeit, Technologie wie KI, Software oder Drohnen in die Truppe einzuführen. Das Problem ist jetzt vielmehr die Umsetzung.

Die Ukraine zeigt uns, was es bedeutet, kriegstüchtig zu sein. Mit Software und KI können viele Hardwaredefizite überwunden, Interoperabilität verbessert und Fähigkeitssteigerungen zügig realisiert werden. Eine Ertüchtigung der Bestandssysteme mit KI sollte logische Konsequenz sein. Politik, Bundeswehr und Industrie müssen jetzt die Chance ergreifen, die Lehren aus der Ukraine nicht nur zu erkennen, sondern auch umzusetzen: Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit Russlands ist dies unsere einzige Chance, im Angriffsfall wehrhaft oder „kriegstüchtig“ zu sein. ■

Mit Software und KI können viele Hardwaredefizite überwunden, Interoperabilität verbessert und Fähigkeitssteigerungen zügig realisiert werden.

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