Warum die deutsche Gaswirtschaft einen LNG-Portfolio-Spieler braucht

Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ vom 28.08.2023

Europa, so scheint es, ist „durch“ mit der Energiekrise. Die Gasspeicher sind gut gefüllt, die Großhandelspreise gefallen, und Uniper, das mit Steuergeldern gestützte Gasunternehmen, macht gar Rekordgewinn. Der Staat kann – zumindest hier – voraussichtlich mit Gewinn aus der aus der Not geborenen Rettungsaktion des letzten Jahres gehen. Angesichts der Rekordhitze scheint der Winter weit weg ebenso wie, Stand August, das erneute Risiko einer Gasmangellage. Bleiben die Konsumenten bei ihren Einsparungen, Gas-Exporteure bei ihren geplanten Ausfuhren und die asiatische Nachfrage stabil, so ist der nächste Winter zu meistern.

Wie sicher ist die Gasversorgung in Europa?

Tatsache ist jedoch: die Gaswirtschaft steht die kommenden Jahre vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen der Notwendigkeit, ausreichend Import-Volumina an Erdgas zu sichern. Nach dem weitgehenden Ende russischer Pipelineexporte nach Europa deckt das Flüssiggas LNG mittlerweile etwa 40 Prozent der EUGasnachfrage. Dies gilt es aus anderen Weltregionen zu beschaffen. Zum anderen die EU-Klimapolitik, die neben einer Dekarbonisierung der verbleibenden Gasmengen, mittelfristig eine starke Verringerung der heimischen Nachfrage bedeutet. Spätestens ab Mitte der 2030er Jahre gehen sukzessive auch die Importe zurück.

Für Gasimporteure bedeutet dies einen Balanceakt. Denn die vielfach geschlossenen LNG-Langfristverträge helfen zwar, verlässlich die Versorgung zu sichern. So hat Sefe gerade mit Venture Global, dem amerikanischen LNG-Unternehmen, einen Liefervertrag über 20 Jahre mit einem Volumen von jährlich drei Milliarden Kubikmeter Erdgas geschlossen. Allerdings sind diese in einer dekarbonisierten Zukunft eine Belastung in finanzieller Hinsicht, aber auch mit Blick auf die „Klima-Zukunftsfähigkeit“ der Importunternehmen. Es besteht das Risiko, dass die in Langfristverträge kontraktierten Volumina zumindest im europäischen Markt nicht voll benötigt werden, und als „stranded assets“ in den Bilanzen verbleiben, oder abgeschrieben werden müssen.

Kurzfristige, primär Spot-basierte Einkäufe geben dagegen Flexibilität. Jedoch sind sie, so die Lehre aus 2022, in knappen Märkten schnell sehr teuer für den Konsumenten. Im Extremfall führen sie bei Krisen zu unternehmerischen Schieflagen. Dazu kommt das gesamtwirtschaftliche Risiko von Wohlfahrtsverlusten und Deindustrialisierung, über die seit der explodierenden Energiekosten im Jahr 2022 in Deutschland ja nicht ohne Grund eine aufgeheizte Debatte geführt wird.

Die Märkte bleiben volatil – wie geht die Gaswirtschaft damit um?

Was es nicht leichter macht: die Energiemärkte sind die kommenden Jahre starken Unsicherheiten und Umwälzungen ausgesetzt. Die Verschiebungen der Handelsgeographien, die im vergangenen Jahr stark an Fahrt aufnahmen, werden sich weiter fortsetzen. Europa orientiert sich immer stärker nach Westen (und Norden) in seinen Gasimporten, während der asiatische Markt – und hier vor allem China – Russland an sich bindet. Neue LNG-Exportkapazitäten in den USA und am Golf sorgen ab Mitte des Jahrzehnts für etwas Entspannung, Versorgungsrisiken sind damit jedoch nicht gebannt. Die Märkte bleiben, so die Einschätzung vieler Analysten, das kommende Jahrzehnt stark volatil, nicht zuletzt angesichts einer weltweit an Fahrt aufnehmenden Energietransition und weiterhin lauernder geopolitischer Risiken.

Was ist zu tun? Der LNG-Markt hat sich die letzten Jahrzehnte schnell entwickelt. Vertragliche Innovationen in Verträgen werden also auch zukünftig Möglichkeiten schaffen, flexibel Volumina zu kontraktieren und abzusichern. Allerdings wird dies nicht die einzige Antwort sein können. Meine These: für die großen deutschen Importeure wird ein ausgeprägter Portfolio-Ansatz wichtig werden. Dies beinhaltet nicht nur die Risikostreuung zwischen Kurz- und Langfristkontrakten. Es bedeutet vor allem, selbst zum Händler zu werden. Andere haben dies bereits getan. Die britisch-niederländische Shell oder TotalEnergies, das französische Energieunternehmen, folgen erfolgreich dem Beispiel der Handelshäuser Trafigura oder Vitol.

Für Resilienz bedarf es neue Wege

Deutschland besitzt keinen vergleichbaren Spieler, der neben dem Einkauf und Endkundengeschäft eine vergleichbare Rolle übernehmen könnte. Dabei hätte dies mehrere Vorteile. Es würde erlauben, über ein breites Portfolio die schwierige finanzielle Balance von Kurzund Langfristverträgen zu halten und die unternehmerischen Risiken eines weiterhin volatilen Marktes abzufangen. Für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wäre dies durchaus relevant. Ein weiterer ernstzunehmender Player im Gashandelsgeschäft hülfe auch, die Resilienz des europäischen Marktes insgesamt zu stärken.

Dafür jedoch müssten deutsche Gasunternehmen eine Größe erreichen, die sie gegenwärtig nicht innehaben. Es braucht Investitionen und Ressourcen, also unternehmerischen und politischen Willen. Ohne dem französischen, eher staatszentrierten Modell das Wort reden zu wollen, wäre es daher auch interessant darüber nachzudenken, welche Rolle Berlin hier spielen kann. Da der deutsche Staat im Zuge der Energiekrise 2022 zum Anteilseigner großer Importeure wie Uniper wurde, besäße er die Möglichkeit, strategisch zumindest ein Unternehmen zum „LNG-Aggregator“ zu entwickeln.

Dies mag nicht zur reinen Lehre der Marktwirtschaft passen. Doch Energiemärkte sind besondere Märkte. Gas ist nicht nur ein privates, es ist auch ein strategisches Gut, für Unternehmen, Haushalte und im Rahmen der Energietransition. Deutschland wäre daher gut beraten, über die Kurzfristigkeit der nächsten Heizsaison hinaus über die strukturelle Weiterentwicklung der deutschen Gaswirtschaft nachzudenken. Die Zeit dazu wäre jetzt.

Deutschland wäre gut beraten, über die Kurzfristigkeit der nächsten Heizsaison hinaus über die strukturelle Weiterentwicklung der deutschen Gaswirtschaft nachzudenken.

Prof. Dr. Andreas C. GoldthauDirektor, Willy Brandt School of Public Policy, Inhaber der Franz Haniel Professor for Public Policy, Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen.
Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
Zum Journal