Reine Kopfsache – Disruption passiert im Kopf

Versicherer kämpfen mit einem angestaubten Ruf und alten, gewachsenen Systemen – und Insurtechs mit hohen Anlauf-Kosten, und mit wenig Branchenerfahrung. Auf der Strecke bleibt meist spürbare Verbesserung für einen Kunden, der sich am liebsten einfach gar nicht mit uns beschäftigen würde.

Viel wurde schon geschrieben, über digitale, individuelle Versicherungsprodukte, die Limitierungen von veralteten IT-Systemen, kundenunfreundlichen Services und einen intransparent aufgestellten Markt. Trotz der hohen Beschäftigung mit dem Thema, und in vielen Bereichen iterativen Verbesserungen, bleibt doch die groß heraufbeschworene Disruption aus. In sämtlichen Studien findet man den Tenor, dass Kunden individuelle und digitale Kundenerlebnisse wünschen, in der Realität kämpfen die Insurtechs, die genau diese bieten, jedoch schnell ums Überleben. Was wird unsere Branche also wirklich verändern?

Der Schritt zurück
Wenn man Versicherungen nüchtern betrachtet, ist es kurios: Ein immaterielles Gut, das jedoch nicht exportiert wird – und in dem Markt hergestellt wird, in dem es seinen Kunden findet. Keine andere Branche funktioniert auf diese Weise. Versicherungsmenschen sind zuerst verwundert von dieser Aussage, und haben dann sehr viele Erklärungen, warum diese Annahmen ganz notwendig sind. Ketzerisch gefragt, sind sie das wirklich? Was, wenn die große Disruption nicht die nächste App oder das individualisierte Produkt ist, sondern eine Änderung, wie die Branche funktioniert?

Ein Weg voller Hindernissen
Natürlich sind die Erklärungen nicht unbegründet. Länderspezifische Regularien, Standards und Gewohnheiten schränken ein. Versicherung ist eine alte, gewachsene und stark regulierte Branche. Man darf hier jedoch nicht vergessen, dass auch andere Branchen hiermit zu kämpfen hatten und – meist getrieben durch eine Krise – Lösungen gefunden haben. Statt sich also mit den Hindernissen zu beschäftigen, kann man die Frage auch umdrehen: Was müsste wahr sein, um auch in der Versicherungsindustrie tiefgreifende Verbesserungen erzielen zu können?

Einer kann nicht in allem besser sein
Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich von anderen Prämissen lösen: Man kann weder auf die Schnelle die IT-Landschaft großer Versicherer grunderneuern, noch gegen eine der ältesten Branchen als Herausforderer in den Kampf ziehen und eine komplette Produktpalette schaffen, die allen Kundenbedürfnissen gerecht wird. Radikaler Wettbewerb steckt nicht in der Versicherungs-DNA: Unsere Wurzeln finden sich in der Absicherung gegen Risiken. Wir haben eine Versichertengemeinschaft zu schützen.

Bester Schutz ist kollaborativ
Für nachhaltige Änderung braucht es also das Wissen der Etablierten, einhergehend mit der Akzeptanz ihrer technischen Limitationen, und die Beweglichkeit der Startups. Technologie ist der Möglichmacher – kein Selbstzweck, der wie in anderen Branchen Kunden bespaßt und zur Interaktion treibt. Um Kunden einen umfassenden, individualisierten und immer noch verständlichen Schutz zu bieten, spielen wir am besten zusammen, statt gegeneinander: eine Kombination aus Stärken, statt Schwachpunkte des existierenden Systems anzugreifen. Die Basis ist also, technologische Lösungen zu treiben, die Versicherungen und Services in ihre Einzelteile zerlegen, und Anbietern die Möglichkeit bieten, die Teile, die ihre Stärken darstellen, bei dem Kunden zu platzieren, der genau diese braucht. Ob dieser Kunde nun im gleichen Markt sitzt oder auf einem anderen Kontinent: Technologie sollte ermöglichen, die Produkte eines Versicherers ohne Eingriff in dessen Systemlandschaft in die regulatorischen, sprachlichen und üblichen Spezifika des Kundenlandes zu übersetzen. Es entsteht eine Art Marktplatz für die besten Ideen und Lösungen, heute eher Platform genannt.

Die Innovation für den Kunden
Diese Herangehensweise ermöglicht viele der funktionalen Teile einzubringen, neue Ideen mit soliden Erfahrungen zu kombinieren und Services anzubieten, die sonst auf eine zu kleine Nische abzielen würden. Dafür braucht man keine Blockchain-basierten Smart Contracts oder 15 verschiedene Versicherungsapps auf dem Kundenhandy, sondern Änderungen in den Köpfen der Menschen, die Versicherungsprodukte bauen und vertreiben. Disruption ist, im Kopf anders über das zu denken, was direkt vor einem steht. Und am Ende machen wir die Innovation für den Kunden hiermit ganz leise: Das Liebste, was er will, ist eben doch, gar nicht an uns denken zu müssen. ■

Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Versicherung“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
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