Kooperieren statt kopieren – ein neues Mindset

Die Versicherungsindustrie muss kundenzentrierter werden. Kundenprozesse müssen digitalisiert und neue Kanäle geschaffen werden. Diese Aussagen sind Konsens bei klassischen Versicherern. Vor dem Hintergrund neu auftretender, volldigitaler Konkurrenz sind Innovationen von außen alternativlos.

Um die Kundenbeziehung nachhaltig zu gestalten, bedarf es digitaler Lösungen, die in der Breite der Nutzergruppe angenommen werden. Differenziert genug, um die Bedürfnisse abzudecken und attraktiv zu sein. Schlank genug, um die Akzeptanzhürde zu senken. Ein Fall für hochspezialisierte Start-ups und neue Formen der Kooperation.

Der Schlüssel für Innovation liegt in der Diversität
Diversität ist der Treiber nachhaltiger Innovationen. Unternehmen, die in den Führungsetagen auf ethnische, kulturelle und Gendervielfalt setzen, sind auf allen Ebenen erfolgreicher – auch profitabler. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie gilt auch, wenn groß und klein, wenn Konzern und Start-up aufeinandertreffen. Gemeinsam mit Start-ups steht etablierten Versicherern alles zur Verfügung, was benötigt wird, um Digitalisierung und Innovation voranzutreiben. Spezialisierte Start-ups verfügen über tiefes Fachwissen in Bereichen, in denen traditionelle Versicherer kaum Erfahrungswerte mitbringen. Sie können ohne Ballast, ohne politische Hürden und mit großer Agilität über neue Wege der Kundeninteraktion nachdenken, diese umsetzen und erproben. Etablierte Versicherer bringen ihrerseits ein tiefes Wissen zu ihren Produkten, Kundengruppen aber auch zu existierenden Hürden mit. Nicht zuletzt verfügen sie über Ressourcen und Zugänge. Wenn diese unterschiedlichen Stärken durch ein entsprechendes Enablement und Mindset respektvoll und auf Augenhöhe miteinander ausgespielt werden können, gelingt es nachhaltig, für die gesamte Branche zu innovieren.

Smartifizierung
Ein erfolgreiches Praxisbeispiel ist die digitale Kfz-Versichertenkarte, die die R+V Versicherung 2020 zusammen mit Miss Moneypenny Technologies eingeführt und damit die Blaupause für eine Reihe weiterer Versicherer geschaffen hat. Die digitale Versichertenkarte wird in den vorinstallierten Anwendungen Apple Wallet oder Google Wallet hinterlegt wie ein Flugticket. Versicherte haben so stets aktuelle Daten zur Hand und können diese im Schadenfall unkompliziert und sicher mit Dritten austauschen. Miss Moneypenny Technologies, ein Software as a ServiceStartup, baut den Funktionsumfang derzeit aus. Bestehende und neue Nutzer:innen erhalten beispielsweise Wetterwarnungen und individuelle Vorteile, wenn sie entsprechende Inhalte ausgewählt haben. Diese digitalen Kfz-Versichertenkarten sind Micro-Applikationen. Eine nachhaltige Alternative zur traditionellen App, die ohne Registrierung und aufwändige Installation auskommt, jedoch Nutzer:innen alle Vorteile bietet. Die Erfolge sprechen für sich. Die Lösung wird derzeit auf die 5 Millionen Kfz-Versicherten der R+V ausgerollt. Axel Eppenstein, Transformationsmanager der R+V, spricht hier von Smartifizierung statt bloßer Digitalisierung. Smart bedeutet hier vor allem: Bestmöglich und tiefgreifend an Problemlösung und Nutzererlebnis orientiert.

Der Erfolg von Kooperationen hängt an den Partner:innen
Tatsächlich ist in solchen Innovationsprojekten die Beziehung zwangsläufig asymmetrisch – die große, etablierte Versicherungsindustrie mit teilweise hunderten mittelbar betroffenen Stakeholdern trifft auf das kleine, eingeschworene Start-up mit Innovationskraft und Expertise in einem spezifischen, aber bedeutenden Teil von Customer Engagement. Die erste große Herausforderung ist, den gemeinsamen Ansatz nicht in großen Strukturen und Prozessen zu zerreiben, sowie mit den unterschiedlichen Geschwindigkeiten und fehlenden Ressourcen auf beiden Seiten umzugehen. Die zweite große Herausforderung ist eine kulturelle. Versicherer, die darauf verzichten Softwarelösungen zu kopieren und stattdessen mit SaaS-Unternehmen kooperieren, stellen einen gewissen Anteil der gewonnenen Erkenntnisse der gesamten Branche zur Verfügung. Bei der R+V findet dies bewusst und mit hoher Überzeugung in der „First Mover”-Rolle statt. Leider sind ein entsprechendes Mindset sowie dazu passende prozessuale Voraussetzungen noch nicht die Regel. Strukturen zur Beschaffung und Umsetzung sind bei Versicherern oft nicht darauf ausgelegt, Start-ups dauerhaft als Partner an Bord zu holen. Damit steht sich die Branche selbst im Weg.

Reverse Engineering ist eine Sackgasse
Überraschend hartnäckig hält sich in der Versicherungsbranche die Überzeugung, es wäre eine erfolgversprechende Idee, spezialisierte Lösungen anderer Dienstleister bzw. Start-ups nachzubauen, anstatt sie einzukaufen und in das eigene Produkt zu integrieren. Mitunter werden Innovationsmanager mit genau diesem Auftrag auf Veranstaltungen und Messen geschickt. Die Bauanleitung zum Unglück funktioniert so: Eigene Brancheninitiativen werden als bloße Impulsgeber umgedeutet. Ist einmal grob verstanden und skizziert, was ein Start-up anbietet, setzt man eine Version davon mit der hauseigenen IT um. Die eigenen Ressourcen (Datenmengen, Branchenwissen, Zugänge, finanzielle Ressourcen etc.) werden hierbei als sehr wertvoll eingeschätzt. Das sind sie auch. Der Denkfehler liegt darin, anzunehmen, dass sie genügen, um langfristig eine erfolgreiche, digitale Lösung zu erzielen. Letztlich ist es ein Trugschluss, dass dies der Weg sei, Wettbewerbsvorteile zu sichern. Auftragsarbeiten oder die eigenen IT-Ressourcen genügen meist nur auf den ersten Blick, um einen bestehenden Prozess in ein digitales Medium zu überführen. Unterschätzt wird die Detailtiefe, in der digitale Lösungen konzipiert und verstanden werden müssen, um sie nachhaltig erfolgreich bei Kund:innen zu platzieren. Das projekthafte Vorgehen in Eigenregie führt allerdings dazu, dass der durchgehende Fokus auf Konzept, Optimierung und Betrieb nicht gelingt. Unerreichbar bleiben insbesondere die Erkenntnisse, die sich erst durch das mehrfache Anbieten einer Lösung über Unternehmensgrenzen hinweg ergeben. Was zunächst nur nach einem wirtschaftlichen Problem (oder je nach Betrachtung Wehklagen) der Start-ups klingt, hemmt im Ergebnis die Innovationskraft der Branche. Spezialisten, die ein Produkt in der Tiefe und unternehmensübergreifend entwickeln, können im fachlichen Austausch nur vorsichtig auftreten. Schlimmstenfalls überstehen sie den Markteintritt nicht. Insellösungen decken den Bedarf zunächst ab, verlieren aber schnell den Anschluss. Zu groß ist die Themenvielfalt, zu wichtig der Fokus, um mit digitalen Anwendungen dauerhaft Erfolg zu haben. Versicherungsunternehmen manövrieren sich mit Lösungen Marke Eigenbau auf diese Weise immer wieder in die Situation, jeden Fehler selbst machen zu müssen. Nicht zuletzt bauen sie dabei neue Legacy Systeme auf, während der Abbau der alten noch im vollen Gange ist.

Wandel gleich doppelt notwendig
Wir haben die Miss Moneypenny Technologies GmbH 2014 gegründet und uns erst 2019 der Versicherungsindustrie zugewandt. Zuvor waren wir in einer Reihe anderer Branchen aktiv, erfolgreich und von Anfang an profitabel. In all diesen Jahren war das Thema “Reverse Engineering“ bzw. “Make or Buy” kein einziges Mal auf dem Tisch. Unseren Kunden, darunter die führenden deutschen Automobilhersteller, kam es nicht in den Sinn, ein Prozess- und Kommunikationstool mit der eigenen IT nachzubauen. Mit unserem Eintritt in die Versicherungsindustrie hat sich dies schlagartig geändert. Unsere erste Erfahrung mit einem Versicherer mündete darin, dass nach 8 Monaten Wissenstransfer und Anbahnung die hauseigene IT entschied, die Lösung selbst bauen zu wollen. Und auch heute noch fällt in etwa 50% der Erstgespräche mit Versicherern irgendwann die Frage “Warum sollen wir das jetzt nicht selber bauen?“. Dass oben genannter erster Kunde nach 2,5 Jahren und einem einigermaßen erfolglosen Versuch in Eigenregie nun doch entschieden hat, unsere Lösung einzukaufen, zeigt deutlich, wie notwendig hier ein Wandel ist. Erste Versicherer lernen dazu und schlagen den vielversprechenden Weg der Kooperation mit Start-ups ein. Echte Kooperationen bieten die Chance, das Spezialwissen und Engagement von Start-ups mit Fachwissen und Ressourcen der Versicherer zu verbinden. Andere Branchen leben eine Geschwindigkeit der Digitalisierung vor, die sich die Versicherungsindustrie wünscht. Diese Geschwindigkeit ist möglich, wenn der Wandel mit Mindset und Enablement beginnt. Mindset bedeutet: Etablierte Versicherer denken strategisch um und öffnen sich, Lösungen für die Branche gemeinsam zu entwickeln. Wer weniger Ressourcen für gemeinsame Innovation aufbringen kann oder möchte, ist bereit, als „Second Mover“ das praxiserprobte Produkt anzuwenden.Enablement bedeutet, diese Öffnung und Abgrenzung auch auf der strukturellen und exekutiven Ebene konsequent zu leben und einzufordern. Wir beobachten diesen Trend und wünschen uns, dass er von Accelerator und Vorstandsebenen in die Unternehmen hineinwirkt. Die Vorteile für alle Beteiligten sind unschätzbar groß. ■

Um die Kundenbeziehung nachhaltig zu gestalten, bedarf es digitaler Lösungen, die in der Breite der Nutzergruppe angenommen werden.

Gemeinsam mit Start-ups steht etablierten Versicherern alles zur Verfügung, was benötigt wird, um Digitalisierung und Innovation voranzutreiben.

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