Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist unter Druck. Viele Anbieter im deutschen Markt drehen an der Preisschraube oder versuchen Wachstum über jüngere Zielgruppen und neue Leistungsmerkmale zu schaffen. Die Nachfrage stagniert derzeit dennoch. Eine Bestandsaufnahme mit Impulsen für die Trendwende.
Stagnierende Verkaufszahlen, steigende Preisdifferenzierung, zunehmender Preiskampf: Die Situation im deutschen Berufsunfähigkeitsmarkt ist schwierig, aber nicht einzigartig. International finden sich mahnende Beispiele, die zeigen, wohin die Entwicklungen führen könnten: zu einer unsicheren Absicherung der eigenen Arbeitskraft für viele sowie zu Milliarden-Verlusten für die Versicherer.
In Australien und den Niederlanden etwa haben die Aufsichtsbehörden eine Standardisierung und Regulierung der Produkte durchgesetzt. Dieser Schritt konnte dort die Versicherbarkeit des Risikos wieder gewährleisten. Solche Markteingriffe wünscht sich niemand, zumal sie mit mehr Bürokratie und Kosten verbunden wären, und es kaum mehr möglich wäre, flexibel auf Kundenbedarfe einzugehen.
Ein Weg aus der Sackgasse
Der Weg führt über die Produktgestaltung. Neue Möglichkeiten dafür eröffnen der medizinische Fortschritt und technologische Neuerungen. Sie gestatten, Verhalten und Gesundheitsstatus der Kunden besser zu verstehen und – sofern diese dies wünschen – positiv zu beeinflussen. Zum Vorteil aller: Kunden profitierten damit von besserer Prävention und Therapie, Versicherer könnten neue Services günstig anbieten, da ihr Schadenaufwand sinkt.
Spannende Ansätze und Lösungen liefern zum Beispiel:
- betterfly: Das chilenische Start-up ist auf „Behavioral Analytics“ spezialisiert und wertet für Auftraggeber kundenspezifische Verhaltensdaten aus. Zu den Quellen gehören Versicherungsdaten, Social Media, Wearables, Bankkonten etc.
Der Service von betterfly erlaubt
– eine zielgerichtete Kundenansprache
– Prävention über digitale Tools
– Präziseres Pricing von Versicherungsprodukten
- eve: Das japanische Unternehmen entwickelt personalisierte medizinische Therapien – abgestimmt auf das Krankheitsbild und die Krankengeschichte des Patienten, die körperliche Verfassung, das Geschlecht und viele weitere Parameter.
Der Service von eve
– reduziert die Behandlungs- und Versicherungskosten
– erlaubt das Schnüren individueller Versicherungspakete
- MIRA Digital Suite (MDS): Damit hat Munich Re eine Digitalisierungs- und Automatisierungsplattform für Lebenssicherer geschaffen, die bereits vorhandene Datenpotenziale systematisch hebt und Informationen besser vernetzt.
Die MIRA Digital Suite
– digitalisiert und beschleunigt die Prozesse in der Risiko- und Leistungsprüfung
– ermöglicht individuellere Produktangebote und kürzere Bearbeitungszeiten
EU stellt die Weichen in Richtung Zukunft
Die Verwendung von Drittdaten ist in Deutschland unterliegt erheblichen Sicherheitsanforderungen. Das erschwert Innovationen. Die EU entwickelt daher den EU Data Act. Er ist Teil der europäischen Datenstrategie und soll mehr Daten im Einklang mit den EU-Vorschriften und -Werten zur Verfügung zu stellen und zudem fairen Zugang und faire Nutzung von Daten sicherstellen. +Tritt er ab 2025 in Kraft, werden Versicherer bei Zustimmung durch den Kunden schon bald Drittdaten für die Risikoanalyse und für innovative Produkt-Features nutzen können. Das allein wird keine Wende bringen, denn mehr Daten erlauben vor allem mehr Differenzierung. Dabei läuft die Branche schon heute Gefahr, durch zu starke Differenzierung Teile der Gesellschaft vor bezahlbarem Versicherungsschutz auszuschließen (vgl. Abb. 1).
Abb.1: Neugeschäftsentwicklung im deutschen BU-Markt
Die Anzahl der BU-Neuverträge ist in den drei preisgünstigsten Berufsgruppen seit 2013 angestiegen. Zu den Versicherten zählen vor allem Akademiker und Kaufleute. Anders sieht es in den zwei teureren Berufsgruppen aus. In diese fallen viele Handwerker und körperlich arbeitende Menschen, die sich immer seltener gegen den Verlust ihrer Arbeitskraft absichern.
((+ Legende mit Berufsklassenskala))
Was tun? Die Preise entgegen aller Evidenz weniger stark zu differenzieren, kann nicht unsere Lösung sein. Dies würde zu Antiselektion führen und die Versicherbarkeit der Risiken generell in Frage stellen.
Fairness und soziale Nachhaltigkeit sind Aufgabe der Assekuranz
Noch ein Blick nach Australien: Dort legte die Aufsichtsbehörde 2019 unter anderem Kriterien für ein „nachhaltiges Produktdesign“ fest. Dabei ging es nicht um den Schutz natürlicher Ressourcen. Der Begriff wird in einem holistischen Sinne verstanden und umfasst auch Aspekte wie Fairness, Transparenz und zuverlässige Erfüllung der versprochenen Leistungen. Diese passen zum Gedanken der Risikoübernahme im Kollektiv und gehören damit zur DNA der Assekuranz. Sprich: Es ist Aufgabe und im ureigenen Interesse der Lebensversicherung, die Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit ihrer Produkte zu erhöhen, versicherte Risiken besser zu managen und Versicherte durch geeignete Hilfen resilienter zu machen.
Damit der dafür nötige Spagat zwischen korrekter Preisgestaltung und nachhaltig fairem Produktangebot gelingt, braucht es
- die stetige Ausweitung der Versicherbarkeit – etwa bei den für die BU so wichtigen Themen Psyche und mentale Gesundheit.
- Services, die helfen, den Eintritt des versicherten Risikos zu verhindern, wie Programme zur Gesundheitsprävention oder zum Management chronischer Erkrankungen.
- Nicht-finanzielle Maßnahmen zur Wiederherstellung des Wohlbefindens wie Rehabilitationsleistungen.
- Neue Technologien oder Risikodifferenzierungen, welche die Erschwinglichkeit des Produkts erhöhen – etwa durch vereinfachte oder automatisierte Risikoprüfung.
Bei der Umsetzung können die oben exemplarisch vorgestellten Ideen und Services helfen. Ihr Erfolg steht und fällt mit einer transparenten und fairen Datennutzung. Letztere wird das Fundament für innovative und im beschriebenen Sinne nachhaltige Produkte in der BU-und Lebensversicherung sein. Diese erfüllen den Kundenbedarf dann in jeglicher Hinsicht. c