„Die nächsten Monate werden dafür entscheidend sein, dass die Zukunft grünen Stahls in Europa liegt“

Interview mit Henrik Adam, Vice President European Corporate Affairs, Tata Steel Limited

Inmitten globaler Unsicherheiten muss sich Europas Stahlbranche neu erfinden. Dabei zeichnet sich das Risiko einer umfassenden Deindustrialisierung unseres Erdteils ab. Henrik Adam ordnet die gegenwärtige Situation aus seinem Blickwinkel ein und teilt seine individuelle Prognose für die Zukunft. Dabei nimmt er innerhalb der Branche eine ganz besondere Rolle ein: Zum einen steht er als Vice President European Corporate Affairs in vorderster Reihe des internationalen Konzerns Tata Steel mit europäischen Geschäftseinheiten in den Niederlanden sowie Großbritannien. Zum anderen ist er Vorsitzender des VDEh sowie Präsident von EUROFER und vertritt damit die Interessen der gesamten europäischen Stahlindustrie.

Herr Adam, ist Europas Stahlindustrie noch zukunftsfähig?

Ich bin davon überzeugt, dass wir für ein resilientes, erfolgreiches Europa eine stabile, leistungsfähige Stahlproduktion in Europa brauchen. Allein um das EU-Ziel für den Ausbau erneuerbarer Energien zu erreichen, brauchen wir schätzungsweise zusätzlich 74 Millionen Tonnen Stahl. Das ist mehr als doppelt so viel, wie vergangenes Jahr in Deutschland produziert wurde. Also ja, die Stahlindustrie als solches ist nicht nur zukunftsfähig. Sie ist ein Zukunftstreiber.

Jedoch wird sich die Industrie durch die Jahrhundertaufgabe der Dekarbonisierung grundlegend verändern. Das bietet Chancen, birgt aber auch Risiken. Es ist kein Geheimnis, dass Stahlproduktion aktuell noch besonders CO2-intensiv ist. Daran wird mit Hochdruck gearbeitet. Aber es gibt Stimmen, die sich für den Ausstieg aus der Stahlindustrie in Europa aussprechen. Das lehne ich entschieden ab, denn ich bin überzeugt: Diese Option verstärkt das Risiko einer Deindustrialisierung Europas.

Halten Sie die Deindustrialisierung Europas wirklich für ein reales Risiko?

Ich bin kein Mensch, der Panik verbreitet. Aber in meinen Gesprächen nehme ich genau das wahr. Es gibt mehr als 500 Stahlproduktionsstätten in 22 EU-Mitgliedstaaten, die rund 2,5 Millionen Menschen direkt oder indirekt Arbeit bieten. Die Bruttowertschöpfung liegt bei über 140 Milliarden Euro, davon lassen sich rund 60 Prozent auf Deutschland und seine direkten Nachbarländer zurückführen. Wenn wir dieses Element aus der Wertschöpfungskette entfernen, dann gibt es auch keine Garantie für den langfristigen Erfolg weiterer Stationen der Wertschöpfungskette. Wieso etwa sollte ein Auto dann künftig nicht auch direkt da gebaut werden, wo der Stahl erzeugt wird? Wieso nicht auch Research & Development dort ansiedeln? Ohne lokale Stahlproduktion ist unsere gesamte Industrielandschaft mit Millionen Arbeitsplätzen bedroht, denn Stahl bildet das Rückgrat für Entwicklung, Wachstum und Beschäftigung in Europa.

Wodurch lässt sich dieses Risiko abwenden?

Wir müssen unsere Position und unsere Souveränität als Europäer in einem agilen aber auch fragilen globalen Umfeld stärken. Die europäische Stahlindustrie ist weltweit führend in Technologie, Innovation und Umweltverträglichkeit. Damit das so bleibt, dürfen wir uns nicht selbst im Weg stehen. Wir müssen mit Tempo am Umbau zu einer klimafreundlichen Industrie arbeiten. Das betrifft Wirtschaft und Politik gleichermaßen. Konkret muss ein globales Level Playing Field für die Industrie geschaffen werden, um fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Eine zentrale Bedingung dafür sind große und kostengünstige Mengen grüner Energie und mittelfristig auch Wasserstoff, der kostengünstig und in großen Mengen zur Verfügung steht. Ich bin sicher, die nächsten Monate werden entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die Zukunft des grünen Stahls in Europa liegt und liegen wird. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die EU ihre strategische Autonomie sichert.