Das Jahr 2022 war mit Blick auf das Thema Energie ein Krisenjahr mit enormen Herausforderungen. Für den Gasmarkt markierte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine Zeitenwende: Russland, der noch im Jahr 2021 größte Erdgaslieferant für Europa, reduzierte seine Lieferungen nach Europa und insbesondere Deutschland massiv. Vertragliche Lieferpflichten Gazproms wurden von russischer Seite zum Teil nicht mehr erfüllt und die zu wartenden Gasturbinen für die Nord Stream Pipeline beschäftigten nicht nur Importeure und Händler. Die Mengenkürzungen führten bei einzelnen europäischen Importeuren zum Totalausfall der russischen Bezüge zur Jahresmitte und die jahrzehntelang gültige Einordnung, Russland sei ein verlässlicher Lieferant, ging verloren. Schließlich explodierten die Nord Stream Pipelines im September und die europäische Erdgasbilanz geriet insgesamt in massive Schieflage.
Für die weggefallenen russischen Mengen musste nun schnell Ersatz gefunden werden. Da die meisten anderen Pipelines Richtung Europa (insbesondere aus Norwegen, aber auch aus Algerien bzw. über die TAP aus Aserbaidschan) an der Kapazitätsgrenze arbeiteten, blieb insbesondere die Option die LNG-Importe zu steigern. Die Auslastung der bestehenden Terminals in Europa stieg rasant an, waren es 2021 noch unter 50% in Nordwesteuropa, lag der Wert in 2022 bei über 80%. Und auch der Bau neuer Infrastruktur – gerade auch in Deutschland – erfolgte in einer nicht für möglich gehaltenen Rekordgeschwindigkeit. Doch obwohl man die LNG-Importe im Jahr 2022 deutlich steigerte – von 110 Mrd. m3 in 2021 auf rund 180 Mrd. m3 in 2022 – reichte dies nicht aus, um die weggefallenen russischen Lieferungen vollständig zu kompensieren. Kann das Angebot nicht weiter erhöht werden, bleibt nur die Nachfrage zu senken, um den Markt in Balance zu bringen. Appelle an Haushalte, die Nachfrage um mindestens 15% zu senken, zeigten Wirkung. Noch deutlichere Nachfragerückgänge als bei den Haushalten waren aber im Industriebereich zu vermerken. Unternehmen sahen sich gezwungen Produktion runterzufahren, denn sowohl die Gas- als auch die Strompreise kletterten in vorher nie dagewesene Dimensionen.
Bereits in den ersten Märztagen – in einer ersten extremen Marktreaktion nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine – stiegen die Gaspreise im Spot in der Spitze (Intraday) auf über 300 EUR/MWh, da ein Stopp russischer Lieferungen befürchtet wurde. Dieser blieb vorerst aus und die Spotpreise kehrten zurück auf 100 EUR/MWh und darunter. Den Beginn einer Gaspreisrally für Spot und Kurve markierte dann allerdings die Kürzung der Gasflüsse über die Nord Stream Mitte Juni und das Ausrufen der Alarmstufe des Notfallplans Gas seitens der Bundesregierung. Auch in anderen europäischen Ländern wurden ähnliche Maßnahmen ergriffen. In der Spitze handelten die Frontkontrakte bis hin zum Frontkalenderjahr 2023 am 26.08.2022 bei knapp über 300 EUR/MWh. Der Markt befand sich in einem Panikmodus und testete Abschaltpreise, da für den Folgewinter 2022/23 Szenarien einer Gasmangellage mit Zwangsabschaltungen für Großverbraucher diskutiert wurden. Auch im Strommarkt zeigten sich neue Preisextreme – hier kam neben dem knappen Gut Gas noch das Problem der französischen Atomkraftwerke hinzu.
Für weitere Preissteigerungen sorgten auch die staatlichen Vorgaben zur Speicherbefüllung. Bereits im März wurden hier die ersten Vorschläge öffentlich gemacht, am 30.04.2022 trat bereits das Gasspeichergesetz in Kraft und im Juli wurden die Zielvorgaben noch einmal erhöht. Diese regulatorischen Änderungen blieben nicht folgenlos für die Sommer-Winter-Spreads. Die hohe Einspeisenachfrage im Sommer, aufgrund niedriger Speicherfüllstände und der verbindlich zu erreichenden Ziele von 90 bzw. 95% zum 01.11.2022, ließen die Sommer-Winter-Spreads in neue Extreme vordringen. So erreichte der Spread für das Speicherjahr 22 (Handel bis Ende März) kurz vor Erfüllung neue negative Extreme. In der Spitze notierte der Sommer 22 durch die Preisexplosion am vorderen Ende 60 EUR/MWh höher als der Folgewinter 22/23. Der hohe Einspeisebedarf aufgrund niedriger Speicherstände lag allerdings nicht unbedingt an einem eiskalten Winter. Gazprom hatte seine Speicherkapazitäten in Europa bereits im Jahr 2021 nicht wieder befüllt und stattdessen weitestgehend leer gelassen. Um auch diese Kapazitäten vor dem kommenden Winter zu füllen, trat im Juni die Use-it-or-loose-it-Regelung in Kraft, mit der Folge, dass Gazprom-Kapazitäten durch den Marktgebietsverantwortlichen THE befüllt wurden.
Zum Ende des Sommers korrigierten die Gaspreise nach der beispiellosen Rallye langsam nach unten und das, obwohl die Nord Stream Flüsse ab Ende August komplett eingestellt blieben. Deutliche Nachfragerückgänge und hohe LNG-Importe ermöglichten stetig wachsende Speicherfüllstände. Die Speicherziele wurden erreicht, so dass Risikoprämien wieder abgebaut wurden. Schließlich führten mildes Wetter und weitgehend volle Speicher in der zweiten Oktoberhälfte zu Preisen unter 50 EUR/MWh beim Day Ahead. Die Kurvenprodukte blieben allerdings noch oberhalb von 100 EUR/MWh. Anfang Dezember kletterten Spot und Kurve nochmals Richtung 150 EUR/MWh, getrieben von einer frühen Kältewelle und dem ersten Schnee. Danach ging es in der zweiten Dezemberhälfte bei milden Temperaturen erneut nach unten Richtung 80 EUR/MWh. Über das gesamte Jahr betrachtet lag der Mittelwert der TTF Day-Ahead Notierungen in 2022 bei rund 123 EUR/MWh, im Jahr 2021 waren es nur 47 EUR/MWh.
Auch nach dem Jahreswechsel korrigierten die Gaspreise weiter nach unten. Denn auch das Jahr 2023 startete extrem mild, das Wetter war dem Frühling deutlich näher als dem Winter. Zudem drehte auch der Wind auf, sodass die Nachfrage in Summe sehr gering war. Die europäischen Gasspeicher waren bereits um die Weihnachtszeit mehrheitlich in die Einspeisung gewechselt, in Deutschland hielt diese Phase bis zum 08.01.2023 an. Darüber hinaus ist Deutschland nun auch auf der Karte für LNG-Importe zu finden. Nachdem im Dezember das erste deutsche LNG-Terminal (FSRU) in Wilhelmshaven den Betrieb aufgenommen hat, folgte im Januar mit Lubmin das zweite und im März die dritte Anlage in Brunsbüttel. Die gute Versorgungslage und auch das milde Wetter sorgten somit für weitere Entspannung an den Handelsmärkten und die Gaspreise bewegten sich kontinuierlich weiter nach unten und verzeichneten dabei Mitte März neue lokale Tiefs. Der TTF Day Ahead tauchte schon mal kurzzeitig unter die Marke von 40 EUR/MWh. Danach sorgten jedoch kühle Wetteraussichten, lang anhaltende Streiks an den französischen LNG-Terminals sowie grundsätzlich eine höhere Volatilität zum Season-Wechsel für leichte Unterstützung. Nun schauen Marktteilnehmer gespannt auf den Start der Einspeisesaison und sicher auch auf die Geschwindigkeit der Speicherbefüllung. Die Ausgangslage ist deutlich besser als vor einem Jahr. Aktuell liegt der Füllstand der europäischen Speicher im Mittel bei 56%. Eine Gasmangellage blieb in diesem Winter glücklicherweise aus. Für den kommenden Winter bleibt dieses Risiko aber bestehen, denn wie sich die Heiz-Nachfrage entwickeln wird, weiß momentan noch niemand. Auch bei der Industrienachfrage blieb eine deutliche Erholung zumindest bislang aus, könnte aber laut Analysten in der zweiten Jahreshälfte zu sehen sein. Auf Angebotsseite bleiben ebenfalls noch Fragezeichen: so ist China und dessen LNG-Nachfrage eine große Unbekannte.
Zusammengefasst war 2022 für den europäischen Energiemarkt ein sehr herausforderndes und turbulentes Jahr. Die geopolitischen Ereignisse führten zu Gaspreisen auf historischen Höchstständen und einer massiven Schieflage im Gasmarkt, die nur durch steigende LNG-Importe und Appelle zur Nachfragesenkung ausgeglichen werden konnten. Die Ereignisse zeigten die Abhängigkeit Europas von Gasimporten und verdeutlichten die Notwendigkeit einer Diversifizierung der Energiequellen.
Für die Energiebeschaffung stellt sich demnach die Herausforderung, ein komplexes System wie den Weltmarkt mit mehrfachen Abhängigkeiten zu ebenfalls sehr komplexen Subsystemen sowie das Zusammenspiel aller Energieträger ständig im Blick zu haben und obendrein die Klimaziele zu erreichen. Die nachhaltige und risikoabgesicherte Beschaffung von Energie – auch und insbesondere grüner Energie – ist somit mehr denn je eine Schlüsselaufgabe.
Weitere Informationen finden Sie unter www.vng-handel.de.
Haftungsausschluss & Copyright: Dieser Beitrag enthält mit höchster Sorgfalt ausgewählte Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität dieser Informationen können wir keine Gewähr übernehmen. Die Inhalte dieses Beitrages sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung der VNG Handel & Vertrieb GmbH unzulässig.