Artikel aus dem Handelsblatt Journal „ENERGIEWIRTSCHAFT“ vom 18.01.2022
Derzeit steht die europäische Energieversorgung vor nie gekannten Herausforderungen. Auf die Belastungen durch die Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen wirtschaftlichen Abschwung folgte der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und in seinem Schlepptau eine internationale Energiekrise in einer Welt hoher Inflationsraten. Es ist zu befürchten, dass der Ukraine-Krieg und seine Folgen die europäische Wettbewerbsfähigkeit strukturell und dauerhaft verschlechtern. Die Krise trifft Europa stärker als andere Teile der Welt. Schmerzlich ist jetzt auch dem Letzten klargeworden, dass Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energieversorgung nicht selbstverständlich sind. Gleichzeitig dürfen wir unsere Vision nicht aus dem Blick verlieren: Dem Klimawandel zu begegnen bleibt die langfristige Aufgabe unserer Generation. Diesen Konflikt müssen wir auflösen. 2023 muss deshalb ein Wendepunkt für die Energieversorgung in Europa werden. Und deswegen gilt es, ein hohes Augenmerk auf die kommende Konsultation der Europäischen Kommission zum Marktdesign zu legen.
Krise als Sprungbrett
Die Lage ist unglaublich ernst. Aber wir haben Handlungsoptionen. Im besten Fall können wir die Krise sogar als Sprungbrett nutzen, um den durch Green Deal und REPowerEU vorgegebenen Wandel voranzutreiben. Dazu zählen etwa der beschleunigte Umbau in Richtung Erneuerbare, der gezielte Aufbau der Wasserstoffwirtschaft und intelligente Lösungen für einen effizienten Umgang mit Energie – alles verbunden durch eine immer digitalere Netzinfrastruktur. Denn genau daran arbeiten E.ON und viele andere Unternehmen mit Hochdruck.
Evolution statt Revolution für das künftige Marktdesign
Das energiewirtschaftliche Umfeld ist seit Monaten volatil und wird es wohl bleiben bis das strukturelle Angebotsdefizit durch neue Quellen wie mehr Erneuerbare, LNG und Wasserstoff ausgeglichen ist. Ursächlich war die bewusste Entscheidung Russlands, die Energieversorgung Europas zu unterbrechen. Der Marktmechanismus verursacht die Probleme nicht, er spiegelt sie lediglich wider. Der europäische Energiebinnenmarkt als Ergebnis von mehr als zwei Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit in der EU ist hier im Gegenteil sogar ein Schlüsselfaktor für Versorgungssicherheit. Und er hat den europäischen Kunden seit seinem Bestehen Vorteile in Milliardenhöhe gebracht. Die Grundpfeiler von Markt und Energieversorgung jetzt grundsätzlich infrage zu stellen, würde bedeuten am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Aber wir sollten uns jetzt Gedanken machen, wie wir das Marktdesign weiterentwickeln und ergänzen können.
Vorsicht vor unüberlegter Staatsgläubigkeit
Wir stehen in Europa erst am Anfang einer gewaltigen Transformation zu einer nachhaltigen Energieversorgung. Marktliche Anreize sind mehr denn je Prämisse für den Erfolg dieser Transformation. Wir brauchen funktionierende Preis- und Investitionssignale, um Kapital anzuziehen. Und das während gleichzeitig hohe staatliche Unterstützungsmaßnahmen für eine bezahlbare Energieversorgung während der Energiekrise an der Tagesordnung und auf absehbare Zeit wohl auch nötig sind. Bei einem zukünftigen Marktdesign muss es also nach wie vor um eine effiziente Preisbildung, zunehmend aber auch um den Schutz der Kunden, die Bezahlbarkeit der Energiewende und die Sicherheit der Investoren gehen. Ich bin zudem überzeugt davon, dass wir dabei nicht in eine unüberlegte Staatsgläubigkeit zurückfallen dürfen. Denn nur effiziente Energiemärkte können die für die Dekarbonisierung erforderlichen massiven Investitionen in erneuerbare und kohlenstoffarme Energien, vor allem aber in leistungsfähige und digitale Energienetze anziehen. Ein Marktdesign, das den Übergang zu Netto-Null im nächsten Jahrzehnt unterstützt, muss die Kosteneffizienz und den nationalen und grenzüberschreitenden Wettbewerb bewahren, die der EU-Energiebinnenmarkt bietet.
Mehr Europa
Ein solches Marktdesign muss ein europäisches sein. Und beim Blick auf den Status quo wird deutlich: Der europäische Strommarkt funktioniert, aber er ist noch nicht vollendet. Die aktuellen Belastungen für Bürger, Gewerbe und Industrie zwingen die Staaten dazu, mit kurzfristigen nationalen Maßnahmen einzugreifen. Das ist politisch und sozial unumgänglich. Doch es sollte die Ausnahme bleiben und nicht die Regel. Denn langfristig kann und wird nur ein noch besser integrierter europäischer Energiemarkt zu mehr Sicherheit und Unabhängigkeit führen. Ein Rückzug in national-zentrierte Modelle ist keine Option. Wir brauchen mehr, nicht weniger EU im Energiebereich – wir müssen mit einer stärkeren Energieunion aus der Krise hervorgehen.
Mehr Optionen für Verbraucher
Ein überarbeitetes Marktdesign sollte darauf abzielen, eine ausgewogenere Auswahl an kurz- und langfristigen Preissignalen in den Endkundenpreisen zu bieten. Entsprechende Produkte könnten von zwei bis vier Jahren reichen, aber eben auch weit über den Zeithorizont an den heutigen Terminmärkten hinaus – zehn bis fünfzehn Jahre oder sogar länger. Verbraucher könnten so direkter von den Vorteilen kostengünstiger Erzeugungsquellen profitieren und hätten mehr Spielraum, sich gegen volatile Marktphasen abzusichern. Eine Ausweitung des Einsatzes langfristiger Verträge würde auch verlässliche Signale für Entwickler liefern und den Markt in die Lage versetzen, die enormen Investitionsvolumina anzuziehen, die für Europas Streben nach Netto-Null und Energieunabhängigkeit erforderlich sind.
Liquide Märkte
Erreicht werden kann dies durch die Beseitigung rechtlicher und administrativer Hindernisse und die Förderung der Liquidität auf den langfristigen Märkten. Ein liquider und ausgereifter Terminmarkt sollte allen Verbrauchern Absicherungsmöglichkeiten bieten: auf der Grundlage von risikoarmen Vereinbarungen, sowohl für Erzeuger als auch für Abnehmer. Es geht also nicht um risikolose Festpreise, sondern um Vertragsgestaltungsoptionen, die einerseits eine Absicherung der Investitionen gewährleisten, andererseits aber einen Teil der Stromerzeugung in die längerfristigen Märkte führen.
Energiewende und Versorgungssicherheit
Im Zentrum muss immer die Versorgungssicherheit stehen. Wir brauchen daher als integralen Bestandteil der Marktgestaltung Kapazitätsmechanismen, die besonders relevant sind für den Aufbau kohlenstofffreier flexibler Stromerzeugungskapazitäten sowie für die Nutzung von Speicherung und Demand-Side-Response. Vor allem aber müssen wir alle gemeinsam – Energiebranche und Regulierer in Europa – den Ausbau der Infrastruktur sowohl auf der Übertragungs-, besonders aber auf der Verteilebene vorantreiben. Die Förderung der Verteilnetze ist dabei die Voraussetzung für die grüne Transformation Europas und eine robuste und integrative Umsetzung von REPowerEU.
Angemessene Kapitalkostenverzinsung
Dies sollten auch die Regulierer in Europa durch eine angemessene Verzinsung dieser Investitionen reflektieren. Denn allein der Ausbau der europäischen Verteilnetzinfrastruktur wird bis 2030 Investitionen von rund 500 Milliarden Euro benötigen. Und die gestiegenen Zinsen werden die Kapitalkosten für diese kritischen Investitionen im selben Zeitraum deutlich erhöhen. Damit die dafür notwendigen finanziellen Mittel ihren Weg in unsere Netze finden, muss ein unterstützendes und innovatives Regulierungssystem, das so dringend benötigte, erhebliche Wachstum der Betriebs- und Investitionsausgaben aber erst einmal ermöglichen.
Fazit: Stärken, was uns stark macht
Investitionen in unsere Energieinfrastruktur sind der beste Schutz der Verbraucher vor künftigen Krisen und zugleich die Grundvoraussetzung, um unsere Dekarbonisierungsziele zu erreichen. Wir sollten die Energiekrise daher als Chance betrachten, zu stärken, was uns stark macht. Wir müssen jetzt gemeinsam Europas Energieunion stärken, die auf effizienten Märkten, Verlässlichkeit für den Verbraucher und Anreizen für Investitionen gründet. Denn am Ende sind Nachhaltigkeit und Resilienz zwei Seiten derselben Medaille.