Wie weit ist die Versicherungswirtschaft bei der Digitalisierung der Industrieversicherung?

Eine der größten Herausforderungen für Industrieversicherer ist, sich den wachsenden Anforderungen ihrer Kunden an digitale Produkte und Prozesse anzupassen. Gerade Industriekunden werden derzeit deutlich innovativer, agiler und digitaler. Die Risikolandschaft verändert sich mit dem immer schneller werdenden technologischen Wandel kontinuierlich. Durch die Transformation der Geschäftsmodelle und der weiteren Entwicklung hin zu einer vernetzten Gesellschaft steigt auch der Bedarf an innovativen Absicherungslösungen. Dies bestätigt der Global Insurance Report 2022 von McKinsey aus Februar 2022: Die globale Versicherungswirtschaft verändert sich insbesondere durch die mit der Coronapandemie eingetretenen Megatrends gravierend.

Künftig wird es daher besonders wichtig sein, frühzeitig für eine ausreichende Risikotransparenz zu sorgen und Ideen für neuartige Absicherungslösungen voranzutreiben.

Digitalisierung verändert das Risikoprofil

Auf dem Weg in die neue Welt der Industrieversicherung sieht der McKinsey-Report insbesondere Versicherer vor grundlegenden strategischen Fragestellungen: Wie können sie einen Mehrwert für ihre Stakeholder schaffen? Können sie die steigende Nachfrage nach der Absicherung komplexer Risiken decken und gleichzeitig ein den Anforderungen ihrer Industriekunden entsprechendes Kundenerlebnis schaffen? Wie können sie dringend erforderliche Produktivitätssteigerungen erreichen?

Einigkeit herrscht wohl darüber, dass die wesentlichen Erfolgsfaktoren für die versicherungsnehmende Industrie in ihrer Digitalisierung liegen. Die Industrie 4.0 bringt mit sich, dass produzierende Unternehmen immer mehr Produkte, beispielsweise Maschinen, mit IT-Komponenten versehen und diese zum Teil durch Software gesteuert werden. Innerhalb der vernetzten Produktion wird Software für cyber-physische Systeme zur Steuerung eingesetzt. Diese cyber-physischen Systeme haben eine tiefgreifende Bedeutung, weil sie zum Beispiel ganze Maschinenparks steuern. Darüber hinaus werden Unternehmen immer mehr IT-Dienstleistungen – beispielsweise Software, Implementierung, Modifikation, Wartung und Pflege, neben diesen Produkten nachträglich angeboten. Es kann daher vorkommen, dass ein fehlerhaftes Software-Update eine Lücke im Sicherheitsrahmen öffnet. Daraus resultiert dann ein zusätzliches Haftungsrisiko für den Hersteller. Dass sich damit durch die Digitalisierung auch das Risikoprofil der Produkthaftpflicht gravierend verändert, ist offensichtlich.

So sieht es auch McKinsey und empfiehlt klare Maßnahmen zur Rettung einer bedarfsgerechten Versicherungswirtschaft: Produktinnovationen und Entwicklung neuer Geschäftsfelder für das digitale Zeitalter, die Einbindung von Ökosystemen und Insurtechs, die zielgerichtete Nutzung von Daten und Analysen sowie die Modernisierung der eigenen IT. Denn die Chancen der Digitalisierung in der versicherungsnehmenden Wirtschaft können die Versicherer nur vollständig nutzen, wenn sie eine Risikosteuerung schaffen, die eine adäquate Risikotransfermöglichkeit für die sich verändernde Risikolandschaft enthält.

Hochkomplexes Underwriting und Regulatorik fordern heraus

Das Underwriting von Risiken großer oder international aktiver Kunden ist ein hochkomplexer Prozess: An internationalen Versicherungsprogrammen für Global Player arbeiten zahlreiche Fachexperten. Sie müssen nicht nur die Wünsche ihrer Kunden und die Risiko-Exponierung, sondern auch die Wettbewerbssituation und die Anforderungen regionaler Aufsichtsbehörden beachten und vorausschauend bewerten. Neben dem individuellen Underwriting exponierter Risiken erschweren auch stetig steigende regulatorische Anforderungen an Compliance, Corporate Governance und Sustainability die digitale Transformation eines traditionellen Versicherungskonzerns.

Daten als Gamechanger für ein agiles und risikogerechtes Underwriting

Daten das Gold der Zukunft – das ist fast schon eine Binsenweisheit und schließt die Versicherungsbranche nicht aus. Wer Daten am innovativsten zusammenstellt, analysiert, versteht und in Produkte und Dienstleistungen umsetzt, wird künftig zu den stärksten Anbietern von Absicherungslösungen zählen. Der Analysierbarkeit von Daten kommt damit eine hervorgehobene Bedeutung zu. Denn nur durch sie lässt sich die Versicherbarkeit der neuen Risiken ausweiten.

Noch bleiben aber riesige Mengen an Daten ungenutzt. Zwar sind viele Kunden mit ihrer Digitalisierung so weit fortgeschritten, dass sie ihre eigenen Risikodaten erzeugen und an Versicherer übermitteln könnten. Doch diese sind oftmals weder technisch in der Lage, diese Daten zu erfassen, noch können sie die Daten analysieren und für die Risikobewertung nutzen. Dies wiederum macht es für Versicherer herausfordernd, für exponierte Risiken eine maßgeschneiderte Versicherungslösung abzugeben.

Aber auch die Qualität der Daten stellt Industrieversicherer vor Probleme: Daten sind häufig unstrukturiert, nur selten digital und teils sogar veraltet. So verhindern sie eine am Markt ausgerichtete Produktentwicklung, denn sie spiegeln weder die Risikosituationen von Unternehmen noch das Nachfrage- und Abschlussverhalten von Maklern.

Insurtechs sind Hoffnungsträger

Ein datenbasiertes Underwriting ist im Geschäft mit den großen Industrierisiken derzeit noch in weiter Ferne. Daher spielen spezialisierte Makler auch weiterhin eine wichtige Rolle, indem sie individuelle Deckungskonzepte für große Konzerne erarbeiten und mit den Versicherern verhandeln. Dabei läuft vieles wie früher ab und es gibt wenig Potenzial für standardisierte Abläufe, die einfach digital dargestellt werden können.

Genau hier setzen die Insurtechs an. Sie stellen die traditionellen Ansätze vieler Versicherer und Spezialmakler infrage, indem sie die digitale Innovation und Transformation in der Branche vorantreiben. Sie fokussieren auf den Bedarf ihrer Kunden und schaffen risikoadäquate, innovative digitale Konzepte. Daher überrascht es nicht, dass die Investitionen in Insurtechs weltweit enorm wachsen: Waren es im Jahr 2004 noch rund eine Milliarde Dollar, so stieg die Summe auf 7,2 Milliarden Dollar im Jahr 2019 an. In den folgenden zwei Jahren stiegen die Investitionen rasant auf rund 14,6 Milliarden Dollar.

Aber Insurtechs allein werden den Bedarf auf dem Versicherungsmarkt nicht decken können. Hier braucht es Allianzen mit den klassischen Risikoträgern. Damit einher geht eine Vereinheitlichung von Daten- und Dokumentenformaten, die digitale Vernetzung und das generelle Umdenken der Rolle des Versicherers vom reinen Kapazitätsgeber zum Präventions- und Risikoberater. Aus starren Risikoerfassungsprozessen und Versicherungsprodukten müssen auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnittene Versicherungslösungen durch individuelle Risikoprofile werden.

Gleichzeitig gilt es, die Effizienz des Risikotransfers zu verbessern, die Ertragsvolatilität der Versicherungsnehmer zu reduzieren und den Umfang der versicherbaren Risiken auszuweiten. Dies ist nötig, damit der Anteil der nicht versicherbaren Risiken nicht noch weiter ansteigt. Und hoffentlich wird in der neuen Welt der Industrieversicherung ein „Marktplatz für Risiken“ Realität, der alle Marktteilnehmer zusammenbringt.