Weg ohne Ziel oder Versorgung der Zukunft? Digital Health in Deutschland

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2023

ChatGPT und GoogleBard sind in aller Munde, erste Revolutionen werden ausgerufen und ganze Berufsbilder mit der sich stetig wachsenden und weiterentwickelnden künstlichen Intelligenz (KI) abgeschrieben. Doch welchen Nutzen können KI-Modelle und Co. für die Gesundheitsversorgung in Deutschland haben und wie steht es um den Standort Deutschland im Bereich Digital Health?

Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung hat zweifellos das Potenzial, diese zu revolutionieren und die Effizienz und Qualität der Patient: innenversorgung zu verbessern. Auch die Anwendung von KI im Gesundheitswesen bietet viele Chancen. Die Technologie kann Ärzt:innen bei der Identifizierung von Mustern in großen Datenmengen unterstützen und somit bei der Diagnose von Krankheiten helfen und zur Entdeckung neuer Behandlungsansätze beitragen.

Wachsender Markt im (str)engen Rahmen

Allein in der Bundeshauptstadt sind aktuell mehr als 150 Start-ups aus dem Digital-Health-Bereich ansässig – von Forschung über Technologie bis hin zur Anwendung. Der Markt wächst in ganz Deutschland und Potenziale in der Versorgung wie auch als Businessfaktor werden aufgedeckt. Ob selbst- oder fremdfinanziert, die Branche boomt und neue Ergebnisse sind fast monatlich auf Kongressen und Messen sicht- und testbar.

Doch so hoch die Geschwindigkeit in der Entwicklung auch ist, die Implementierung von KI oder technologiegestützter Medizin in die Regelversorgung ist in Deutschland eher ein (Ultra-)Marathon. Starre Regelwerke, Datenschutzrichtlinien aus dem analogen Zeitalter und nicht zuletzt mangelnde Gegenfinanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen zehren an der Motivation der agilen digitalen Unternehmungen. Nur wenige Versorger – ob ambulant oder stationär – sind in der Lage, neue und kostenintensive Technologie ohne Refinanzierung zu implementieren. KI als Selbstzahlerleistung ist für die meisten Nutzer:innen des deutschen Gesundheitswesens nicht erschwinglich. Dabei bieten digitale Helfer deutliche Vorteile – für Ärzt:innen und Patient:innen.

Vorsorge: digital (unterstützt) statt nicht verfügbar

In Deutschland hat beispielsweise das Hautkrebs-Screening eine entscheidende Bedeutung, da Hautkrebs zu den am häufigsten diagnostizierten Krebsarten gehört. Screenings sind ab dem vollendeten 35. Lebensjahr Bestandteil des GKV-Leistungskataloges. Sie werden von Dermatologen und Hausärzten durchgeführt, wobei die Hausärzte (nach einer 1-2tägigen Schulung) einen deutlich größeren Anteil der Screenings durchführen. Dennoch sind die Teilnahmequoten am Hautkrebs-Screening suboptimal. 2020 nahmen so nur etwa 30 Prozent der Anspruchsberechtigten an den Früherkennungsuntersuchungen teil. Ergebnis sind verzögerte Diagnosen und in einigen Fällen auch fortgeschrittener Hautkrebs. Die Ursachen dafür liegen unter anderem an der knappen Verfügbarkeit von Terminen bei Hausärzten und Dermatologen, dem Nichtwissen in Bezug auf Vorsorgeuntersuchungen und der emotionalen Hürde für einen Arztbesuch.

Eine Studie der Zeitschrift JAMA Dermatology aus dem Jahr 2020 zeigte, dass ein KI-Modell Hautkrebsläsionen mit einer Genauigkeit von 86 Prozent identifizieren konnte, verglichen mit einer Genauigkeit von 71 Prozent bei Dermatologen (der Vergleich zu Hausärzten wurde nicht gezogen). Kann also KI als Werkzeug zur Unterstützung der Ärzt:innen dienen, um deren Genauigkeit und Effizienz zu steigern?

Es existieren bereits Geräte auf dem Markt; die mittels Bodymapping und digitaler Dermatoskopie den ganzen Körper der Patient:innen in kurzer Zeit screenen, Läsionen auswerten und die Bilder auch für einen späteren Vergleich speichern. Die GKV übernimmt die Leistung nicht, so dass es sich bislang um eine individuelle Gesundheitsleistung handelt, die zusätzlich zum bisherigen Screening angeboten wird. Notwendig ist hier auch immer die Kontrolle durch den Arzt oder die Ärztin.

Die vollständige Automatisierung von Hautkrebs- Screenings durch KI wäre der nächste Schritt und hätte – zumindest in der Theorie – das Potenzial, die Früherkennung in Deutschland zu verbessern. Menschen könnten einfachere und schnellere Zugänge zu Screenings erhalten, ohne eine Praxis aufsuchen zu müssen. Dies könnte dazu beitragen, die Früherkennung von Hautkrebs zu verbessern und somit Leben zu retten.

CAVE: Der Umgang mit KI muss von allen Seiten gelernt werden

Die Einführung solcher Technologien erfordert jedoch eine sorgfältige Evaluierung und Integration in das bestehende Gesundheitssystem. Denn: Auch wenn das Beispiel so einfach und klar scheint und auf den ersten Blick sofort die Frage aufgeworfen wird, warum nicht einfach „Walk-in-Screeningcenter“ aufgebaut werden, kann man an diesem Beispiel die grundlegenden Fragen zum Einsatz von KI in der medizinischen Diagnostik und Therapie sehr gut darstellen.

Deren Integration in die medizinische Praxis und die gewohnte Patient Journey wirft als erstes eine Vielzahl von rechtlichen Fragen auf. Eine der zentralen Fragen betrifft die Haftung. Wenn ein KI-Modell eine Diagnose oder ein Behandlungsvorgehen empfiehlt und es zu unerwünschten Ergebnissen kommt: Wer trägt die Verantwortung? Das ärztliche Personal oder die Entwickler der KI? Und was ist, wenn Arzt oder Ärztin sich den Empfehlungen der KI nicht anschließen – wird das dann zukünftig eine Klausel in den Haftpflichtverträgen? Es bedarf klarer gesetzlicher Rahmenbedingungen, die die Haftungsverhältnisse definieren und den Schutz der Patient: innen gewährleisten.

Ein weiteres ethisches Dilemma betrifft die Transparenz von KI-Entscheidungen. KI-Modelle basieren auf komplexen Algorithmen, die für Menschen oft undurchsichtig sind. Dies kann zu einer Black-Box-Problematik führen, bei der Ärzt:innen und Patient:innen Schwierigkeiten haben, die Grundlagen einer KI-Empfehlung zu verstehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass KI-Systeme transparent und nachvollziehbar sind, damit medizinische Entscheidungen nachvollzogen werden können. Die Genauigkeit von KI-Modellen hängt von den Daten ab, auf denen sie trainiert werden. Es besteht die Gefahr, dass KI-Modelle für bestimmte Bevölkerungsgruppen weniger genau sind.

Die Qualität der Trainingsdaten und die Expertise derjenigen, die die Modelle entwickeln, sind entscheidend. Die Expert:innen müssen weiterhin ebenso in der Lage sein, die Krankheitsbilder zu beurteilen. Das heißt, auch die ärztliche Weiterbildung und Fortbildung darf nicht vernachlässigt werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund eines Phänomens, das relativ neu beschrieben wurde, aber zunehmen wird, wichtig:

Man würde annehmen, dass generative Intelligenz immer besser und genauer wird, doch je mehr künstlich erstellte Inhalte in das Training von KI-Modellen einfließen, desto größer wird eher die Gefahr der Degeneration. Wissenschaftler:innen bezeichnen diese Form der degenerativen KI-Krankheit als „Model Autophagy Disorder”, kurz MAD. Das Problem betrifft Bildgeneratoren, Text-, Video- und auch Audiomodelle. Forscher:innen vermuten, dass es wichtig sei, den Anteil an menschengemachten Inhalten in den Trainingsdaten über einem bestimmten Level zu halten, um MAD zu verhindern, allerdings gelangen durch die rasante Verbreitung von KI-Tools immer mehr synthetische Inhalte ins Netz und damit auch in die Trainingsdatensätze großer Modelle. Dieses Szenario wäre für Gesundheitsanwendungen eine Katastrophe.

Die richtige Balance

Insgesamt bietet die KI im Gesundheitswesen enorme Chancen, aber auch komplexe Herausforderungen und wirft ethische Fragen auf. Die richtige Balance zwischen Technologie und menschlicher Expertise zu finden, wird entscheidend sein, um die bestmögliche Patientenversorgung zu gewährleisten.

Und dann ist es an Herstellern, Anwender:innen, Politik und auch Patient:innen selbst, Aufklärung zu betreiben. Gerade in einem sich rasant entwickelnden Bereich wie Digital Health sollten alle Handelnden entlang der Patient Journey wissen, wann, wo und wie digitale Unterstützung in Diagnostik und Therapie zum Einsatz kommen. Transparenz und selbstverständlich auch eine finanzierbare Implementierung in die Regelversorgung sind entscheidend, wenn Menschen zukünftig Medizin auch digital erleben und davon profitieren wollen.

Allein in Berlin sind mehr als 150 Start-ups aus dem Digital-Health- Bereich ansässig.

Dr. med. Susanne DörrFachärztin für Innere Medizin, Geriatrie und Palliativmedizin und Geschäftsführende Ärztliche Leitung, Helios
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