Warum „mehr digital“ auch „mehr menschlich“ braucht

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind nicht mehr Zukunft. Sie sind bereits in der Gegenwart angekommen. Das bewirkt massive Veränderungen in der Arbeitswelt. Das erfordert einen Paradigmenwechsel von Arbeitswerten. Der österreichische Kaiser Franz Josef hat am Beginn des 20. Jahrhunderts noch gemeint: „Ich brauche keine Beamten, die mitdenken. Ich brauche Beamten, die die Pflicht erfüllen.“ Diese nicht nur in Österreich weit verbreitete Haltung von „Gefolgssoldat:innen“, Anforderungen möglichst exakt zu erfüllen, prägt nach wie vor unser Schulsystem: Gute Noten bekommt, wer Fragen erwartungsgemäß beantwortet. Kritisches Hinterfragen von Annahmen und kreatives Beschreiten eigener Lösungswege wird viel zu wenig honoriert. Social Skills werden kaum gefördert. Doch genau diese menschliche Intelligenz und Innovationskraft in Kombination mit Empathie und Kommunikationsfähigkeiten braucht unsere zunehmend von künstlicher Intelligenz geprägte Arbeitswelt.

Mut zur Entscheidung braucht Fehlerkultur

Traditionell erfüllen die Mitarbeitenden die häufig wiederkehrenden Standardaufgaben. Für komplexere Aufgaben, die neue Lösungen erfordern liegen die Entscheidungsbefugnisse bei der Führungskraft. Doch genau diese relativ einfach standardisierbaren Anforderungen werden als erstes durch Chat Pods ersetzt. Bei den Mitarbeitenden landet dann nur, wofür es bisher keine oder nur wenige ähnliche Fälle gab bzw. die so komplex sind, dass es den Rahmen der Algorithmen sprengt. Konnte man bisher zur Bearbeitung von Anfragen auf die Sicherheit von Standards zurückgreifen, ist jetzt das Finden eigenständiger Lösungen für außergewöhnliche Situationen gefragt. Dazu muss man Entscheidungen treffen. Das birgt immer das Risiko der Fehlentscheidung. Erst die Zukunft mit dem zukünftigen Wissen wird zeigen, ob die Entscheidung vorteilhaft gewesen ist. Es gilt aber mit dem jetzigen unzulänglichen Wissen zu entscheiden. Das braucht sorgfältiges Abwägen von Vor- und Nachteilen UND den Mut zur Lücke. Dringend gefragt sind eine Kultur, in der aus Fehlern und Irrtümern gelernt wird. Perfektionismus killt die Innovation. Man macht keine Fortschritte, wenn man nicht das Risiko des Irrtums in Kauf nimmt. Übrigens in unserer deutschen Sprache wird aus „FEHLER“ durch Vertauschen einiger Buchstaben „HELFER“. Und „gescheitert“ trennt der Buchstabe „t“ von „gescheiter“. „t“ steht in der Physik für Time d.h. Zeit. Das passt auch hier: Wenn sich eine Entscheidung im Nachhinein als unvorteilhaft herausstellt, gilt es zu lernen, was man zukünftig anders macht, um es ab jetzt noch besser zu machen. Auf Sokrates geht der doxastische Fallibilismus zurück, die Unabänderlichkeit der Tatsache, dass Menschen sich manchmal irren. Cicero und Seneca der Ältere werden oft zitiert mit: „Irren ist menschlich.“ Weniger bekannt ist der zweite Teil des Zitats: „Auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.“ Der schlimmste Fehler ist, Fehler zu verbergen. UND: Fehler des Unterlassens haben häufig wesentlich schlimmere Auswirkungen als Fehler des Tuns. Robert Musil bringt in seinem Roman „Mann ohne Eigenschaften auf den Punkt, was wir als Gesellschaft in der Welt im Umbruch dringend brauchen: „Wir irren vorwärts.“

Emotionale Empathie zum Steuern von Emotionen

Die großen Online-Shops beweisen es bereits, dass Algorithmen zunehmend rationale Empathie lernen d.h. unsere Bedürfnisse und Reaktionen schrittweise immer besser einschätzen können. Für Menschen wird zunehmend emotionale Empathie erforderlich. Wer kennt es nicht aus eigener Erfahrung: Man hat ein Anliegen und sucht im Selfserviceportal nach Lösungen. Wenn man diese länger nicht findet, tippt man es in den Chat Pod. Einige Wortwechsel hin und her – die Ungeduld steigernd – bekommt man die Antwort: „Wenden Sie sich an einen Mitarbeitenden.“ Oder man möchte mit einem Menschen sprechen, weil man selbst weiß, dass die eigene Anfrage ein ziemlich kniffliger Spezialfall ist. Mühsamst findet man erst nach langem Suchen auf der Website Kontaktinformationen. In beiden Fällen hat man zusätzlich zu dem eigentlichen Anliegen schon ziemlich viele unerfreuliche Erfahrungen im Vorfeld gemacht, bevor man endlich mit einem Menschen spricht. Dementsprechend gestresst und emotional aufgeladen steigen Kund:innen ins Gespräch ein. Eine wesentliche Aufgabe der Mitarbeitenden im Servicebereich ist daher emotionale Intelligenz, um einerseits selbst ruhig zu bleiben, wenn man für Dinge beschuldigt wird, auf die man nicht oder kaum Einfluss nehmen kann und dazu beizutragen, dass auch die Emotionen der Anrufenden so kalmiert werden, dass an sachlich-inhaltliche Lösungen zu denken ist.

So lange unser Hirn im Stressmodus fährt, sind die Zentren für Vernunft und Verstand deaktiviert. Der erste Schritt zur Problembehandlung ist daher immer, Kund:innen darin zu unterstützen, aus dem emotionalen Ausnahmezustand wieder auszusteigen und zur Denkfähigkeit zurückzufinden. Dafür reicht nicht die rationale Empathie, dass man das ursächliche Anliegen versteht, sondern es braucht auch emotionale Empathie d.h. Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeiten, um das Gegenüber auch auf der Ebene der Emotionen abholen zu können.

Kapital Vertrauen

Der Mut zu Entscheidungen, das ständige Verbessern durch das Lernen aus Irrtümern und Fehlern und das kluge Steuern von Emotionen braucht ein vertrauensvolles Umfeld. Servicequalität nach außen ohne Qualität der Zusammenarbeit im Inneren ist wie eine Fassade, die gewaltige Statik braucht, um den Schein zu wahren. Hier sind die Führungskräfte gefragt, Voraussetzungen zu schaffen, die nachhaltige Servicequalität auf Basis von hoch motivierten und kooperativen Mitarbeiter:innen ermöglichen und fördern.

„Command and Control“, das von militärischen Führungsprinzipien abgeleitet ist, hat hier ausgedient. Erstens lassen es sich die Menschen zunehmend nicht mehr gefallen und zweitens schwächt es die Eigenverantwortung. Doch gerade Eigeninitiative der Mitarbeitenden ist in einem zunehmend dynamischen Umfeld mit hohem Grad der Digitalisierung erforderlich. Das funktioniert nur mit Vorbild und Vertrauen. Der Motivations-Guru Reinhard Sprenger sagt zurecht: „Vertrauen schenken, erzeugt einen Verpflichtungssog.“ „Ich vertrauen dir“ und „ich traue dir zu“ lässt Menschen wachsen. Aus einer inneren Verpflichtung heraus wollen sie dem ihnen geschenkten Vertrauen gerecht werden. UND: Führen mit Vertrauen braucht Kontrolle. Einerseits und hauptsächlich um den Mitarbeitenden Rückmeldung zu geben, was sie für ihre Selbststeuerung und ihre Weiterentwicklung brauchen. Andererseits auch, um nicht in die Beliebigkeit des „Laissez-faire“ zu verfallen. Der Führungsexperte Manfred Winterheller fasst es als „Führen mit dem Lichtschwert“ zusammen: Einerseits klar aussprechen, WAS von den Mitarbeitenden erwartet wird und andererseits hat es Konsequenzen, wenn Vereinbarungen nicht gehalten werden. WIE diese vereinbarten Anforderungen innerhalb der vereinbarten Rahmenbedingungen erfüllt werden, liegt in der Gestaltung der Mitarbeitenden. Insgesamt ist die kluge Ausgewogenheit zw. Spielregeln und Spielräumen von zentraler Bedeutung. In Anbetracht der zunehmend kniffligeren Aufgaben, die noch nicht automatisiert sind, müssen die Spielräume tendenziell größer werden. Führungskräfte sind darin gefordert, Befugnisse loszulassen und an das Team zu übertragen. Nur wenn Aufgaben, Verantwortungen und Entscheidungsbefugnisse zusammenpassen, können Teams gut kooperieren.

Führungskräfte sind auch der Schlüssel zur Mitarbeiter:innen-Loyalität: Mitarbeiter:innen entscheiden sich für ein Unternehmen und eine Funktion, bleiben wegen dem Team und verlassen das Unternehmen wegen der Führungskraft. Zumindest in 75 % der Kündigungsfälle ist die Beziehung zur Führungskraft der Hauptgrund. Das hat eine Gallup-Studie mit mehr als 1 Million befragten Angestellten ergeben. Entscheidend ist das Verhalten der Führungskraft – insbesondere in kritischen Situationen. Da steht das Vertrauen auf der Probe.

Künstliche Intelligenz für menschliche Intelligenz

Das deutsche Sprichwort „Schuster bleib bei deinen Leisten“ ist auch für eine zunehmend digitale Arbeitswelt sinnvoll: Es ist eine Frage der Zeit – in der Vergangenheit oder Zukunft –, dass die künstliche Intelligenz recherchieren und daraus Handlungsempfehlungen ableiten besser kann als menschliche Expert:innen. Befreit von diesen wiederkehrenden einigermaßen standardisierbaren Aufgaben können sich die Mitarbeitende auf das fokussieren, was bis auf weiteres wir Menschen wesentlich besser können: Vertrauen von Kund:innen gewinnen, Beziehungen zu Kund:innen pflegen, Kund:innen in ihren Nöten emotional unterstützen und so die Loyalität von Kund:innen fördern.

Für eine Customer Experience, die Kund:innen begeistert oder zumindest zufriedenstellt, sie animiert wiederzukommen und vielleicht sogar Empfehlungen auszusprechen, braucht es das optimale Zusammenspiel von künstlicher mit menschlicher Intelligenz. Dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen, ist eine zentrale Führungsaufgabe.

Für die Kund:innentreue ist auch zu bedenken, was die erfolgreich Tennisspielerin Martina Navratilova in einem Interview gesagt hat: „Um nach vorn zu kommen und dort zu bleiben, kommt es nicht darauf an, wie gut du bist, wenn du gut bist, sondern wie gut du bist, wenn du schlecht bist.“ Das Vertrauen der Kund:innen steht auf der Kippe, wenn Selfserviceportal und Chat Pods nicht mehr weiterhelfen können. Das menschliche Service der Mitarbeitenden ist dann entscheidend, ob das Vertrauen der Kund:innen in das Unternehmen vertieft und gestärkt wird oder bricht.

„Mehr menschlich“, das durch die Zeitersparnis durch „mehr digital“ ermöglicht wird, kann damit zum wesentlichen Wettbewerbsvorteil werden.