Purpose – Endorphine fürs Unternehmen

Teams und Mitarbeitende, die sich selbst führen und (fast) immer intuitiv wissen, was zu tun ist und es dann auch noch konsequent anpacken – ein Traum, oder? Ja, aber keine Träumerei, wie mir bei einem Restaurantbesuch deutlich wurde, als ich Zeuge einer faszinierenden Szene war: Am Tisch nebenan saß ein junges Paar, vielleicht bei einem ersten Date. Beide schienen etwas aufgeregt zu sein, und der junge Mann schaute zusehends nervös auf die Speisekarte und die Preise. Wie beiläufig die Bedienung dann die Situation und seinen Stress erfasste, war großartig. Sie empfahl die günstigsten Gerichte, als handelte es sich um das Gourmet-Menü, und schwärmte vom günstigsten Wein, als stammte er aus einer der besten Lagen der Welt. Das junge Paar bestellte und speiste augenscheinlich glücklich. Als ich die Mitarbeiterin beiseitenahm und ihr meine Beobachtung schilderte, gab sie eine verblüffende Antwort:

„Wir sind dafür da, Menschen einen unvergesslichen Abend zu bereiten. Und ich hatte den Eindruck, dass dieses junge Pärchen über nicht so viel Geld verfügt. Sie sollen ihre Zeit und das Essen bei uns natürlich trotzdem genießen können.“

Damit hat die aufmerksame Kellnerin nicht nur wunderbar den Purpose des Restaurants formuliert – auch wenn dort niemand diesen Begriff benutzen würde –, sondern gleichzeitig seine Wirkungsweise erklärt. Der Purpose ist, angelehnt an den Ökonomen Adam Smith und seinen Begriff von der „ruhigen Hand des Marktes“, nichts anderes als die ruhige Hand der Werte. Wenn sich Unternehmen ihre Daseinsberechtigung, ihr „Wozu?“ und „Wofür?“ bewusst machen und in lebendige Kultur übersetzen, befinden sie sich auf dem besten Weg zur „purpose-driven organization“. Das Selbstvertrauen der Mitarbeitenden, eigenständig gute Entscheidungen treffen zu können, wächst in diesem Prozess des kulturellen Wandels immens. Jede Wette: Sobald sie den Purpose nachvollzogen und verinnerlicht haben, lässt ihr Bedürfnis, bei Führungskräften nachzufragen oder sich eine Erlaubnis zu holen, deutlich nach.

Seit sich etwa die Soennecken eG, eine Einkaufsgenossenschaft für den Bürofachhandel, auf den Purpose „Wir machen Arbeit lebenswerter“ verständigt hat, ist Führung im Unternehmen leichter und selbstverständlicher geworden. Über viele Themen und Facetten müsse im Alltag gar nicht mehr gesprochen werden, hat mir CEO Dr. Benedikt Erdmann für mein Top-Level-Gesprächsformat „Spitzengespräche“ berichtet. Erfreulicher Nebeneffekt: Führungskräfte haben mehr Zeit für die strategische Weiterentwicklung des Unternehmens.

Schade, dass im Markt der Zweck eines Purpose häufig missverstanden wird. Allzu oft haben die Verantwortlichen eine Markenaussage im Sinn und zielen nur direkt auf Absatz, Umsatz und Gewinn. Aber so funktioniert es nicht; der Purpose wirkt zuvorderst nach innen.

Welches Potenzial darin liegt, wenn sich Mitarbeitende an der ideellen Ausrichtung eines Unternehmens orientieren können, zeigen die dm Drogeriemärkte seit mehr als 50 Jahren mit ihrem Motto: „Hier bin ich Mensch, hier kauf‘ ich ein.“ Als Kunde habe ich überwiegend das Gefühl – natürlich nicht immer, nobody is perfect –, diese Haltung zu spüren. Dabei tut es gut zu wissen, dass dm auch seine Mitarbeitenden in diese Wertewelt einbezieht, sie vernünftig bezahlt und ihnen Verantwortung überträgt und Freiräume lässt. dm wäre nicht eines der beliebtesten Einzelhandelsunternehmen und einer der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland, wenn das Unternehmen ausschließlich über effizienzbasierte KPIs geführt werden würde.

Wichtig ist, und dafür steht dm exemplarisch, dass ein Purpose kein Kunstprodukt sein darf. Er sollte sich organisch aus dem Wesen des Unternehmens ableiten. Führungskräfte benötigen die Sensibilität dafür, was die Belegschaft antreibt, wie sich die Bedürfnisse der Kunden verändern und wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sich mit dem Purpose auseinanderzusetzen. Stimmen Timing und Konzept, setzt das Unternehmen umgehend Endorphine frei – und alle Stakeholder spüren es.

Über den Autor
Dr. Thomas M. Fischer
ist Gründer und CEO der Allfoye Managementberatung, Mitglied im Aufsichtsrat der Bauer Gruppe, Chairman des Institute for Leadership & Transformation sowie Startup-Gründer, Coach und Investor. Seine Expertise liegt auf dem Gebiet von Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsstrategien für den Mittelstand, deren Umsetzung seiner Erfahrung nach nur über einen Kulturwandel (Stichwort: Purpose) zum Erfolg führen kann.