Nutzen und einfacher Zugang sind die Basis

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022

Wie digitale Anwendungen in der Medizin Erfolg haben können

Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) und digitale Pflegeanwendungen (DiPA) gelten als neue Hoffnungsträger, wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens geht. Und in der Tat steckt in beiden das Potenzial, das Leben von Patientinnen und Patienten genauso wie die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren Beschäftigten im Gesundheitswesen zu verbessern. Grundsätzlich aber gilt: Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Für eine gelungene Etablierung muss eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Unabhängig von der konkreten Anwendung gibt es für mich drei zentrale Anforderungen an alle digitalen Angebote und vermeintlichen Innovationen im Gesundheitswesen:

Digitale Anwendungen müssen die ärztliche Tätigkeit erleichtern
Erstens muss die digitale Lösung die Arbeit von uns Ärztinnen und Ärzten, aber auch allen anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen erleichtern. Das klingt banal und selbstverständlich, aber das ist es nicht. Inzwischen machen zwar viele sinnvolle digitale Angebote die Medizin besser, zum Beispiel in der Diagnostik oder bei Operationen. Aber es gibt eben auch viele Anwendungen, die nicht funktionieren. Ich denke da vor allem an den ambulanten Bereich, wo die Kolleginnen und Kollegen mit unausgereiften Lösungen für digitale Patientenakten oder E-Rezepte zu kämpfen haben, um nur zwei besonders prominente Beispiele zu nennen.

Patientinnen und Patienten müssen von neuen Anwendungen profitieren
Zweitens müssen die digitalen Anwendungen auch einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten haben. Wenn sie wegen digitalisierter Prozesse eher später einen Termin oder eine wichtige Untersuchung bekommen als unter analogen Bedingungen, dann werden die Patientinnen und Patienten diese Anwendungen nicht akzeptieren. Und das ist auch verständlich. Digitale Angebote sollten das Gesundheitswesen besser und effizienter machen. Diesen Anspruch dürfen Patientinnen und Patienten genauso wie die Ärzteschaft und alle anderen Berufe des Gesundheitswesens durchaus haben.

Niemand darf ausgeschlossen werden
Zum dritten Punkt: Es wird bei der Diskussion über die Möglichkeiten digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen gern vergessen, dass nicht alle Patientinnen und Patienten digital-affin sind. Im Gegenteil: Wir haben es als Ärztinnen und Ärzte sehr oft mit älteren, teilweise auch sehr alten Patientinnen und Patienten zu tun. Für diese große Gruppe ist die Bedienung eines Smartphones oder Computers nicht selbstverständlich. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, wenn die Terminvergabe in der Arztpraxis auf einmal nur noch online erfolgt, oder wenn ein Therapieangebot nur noch über das Smartphone oder über den heimischen Computer verfügbar ist. Wir sollten bei der Einführung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen immer daran denken, dass es diese große Gruppe an Patientinnen und Patienten gibt. Und das bedeutet in meinen Augen auch: Im Zweifelsfall müssen wir auch an analogen Angeboten festhalten. Denn der Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung muss für alle weiter gewährleistet sein – egal ob sie mit dem Smartphone groß geworden sind, oder ob es in ihrer Kindheit noch nicht einmal in jedem Haushalt Telefonapparate gab.

Deutschland als Vorreiter dank DiGA und DiPA
Diese Grundanforderungen gelten in meinen Augen genauso für DiGA und DiPA. Auch oder vielmehr gerade weil Deutschland mit der Einführung von DiGA im September 2020 und den geplanten Angeboten von DiPA in einer ungewohnten Position ist: der des Vorreiters auf diesem speziellen Gebiet. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, finde ich sowohl die Anwendungen für den Bereich Gesundheit als auch für die Pflege sinnvoll. DiGA können Ärztinnen und Ärzte genauso wie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, aber etwa auch Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten entlasten. Und sie können im Idealfall dazu führen, dass sich Patientinnen und Patienten für ihren Genesungsprozess oder die Bewältigung einer chronischen Krankheit stärker mitverantwortlich fühlen.

Behandlungserfolg muss entscheidendes Kriterium für DiGA und DiPA bleiben
Aber hier liegt eben auch ein großes Problem. Die – politisch gewollte – schnelle Einführung und Zulassung von DiGA hatte meiner Ansicht nach zur Folge, dass nicht jedes Angebot umfassend auf seinen konkreten Nutzen für den Behandlungserfolg geprüft wurde. Im September 2021, ein Jahr nach dem Start, waren vom zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nur fünf von 20 DiGA dauerhaft zugelassen. Nur bei ihnen war der Nutzen für die Patientinnen und Patienten auch tatsächlich belegt. Mittlerweile sind 13 von 35 beim BfArM gelisteten DiGA dauerhaft zugelassen. Die Richtung stimmt also, aber es bleibt noch Luft nach oben. Auch scheint die Akzeptanz bei den Kolleginnen und Kollegen und ebenso bei den Patientinnen und Patienten nicht immer hoch zu sein. Nach einem Jahr wurden gerade einmal 50.000 Nutzerinnen und Nutzer von DiGA verzeichnet. Wenn DiGA aber nicht regelmäßig genutzt werden oder wenn der Erfolg sich trotz kontinuierlichem Einsatz nicht einstellen will, dann schwindet die Akzeptanz. Deswegen scheint es mir wichtig zu sein, dass alle beim BfArM gelisteten DiGA auch wirklich auf ihren Nutzen hin überprüft wurden. Wenn DiGA einen ähnlichen Stellenwert wie Medikamente oder Therapien erhalten sollen, dann müssen sie ihre Tauglichkeit auch in entsprechenden Studien unter Beweis gestellt haben, denn DiGA-Anbieter verlangen teilweise sehr hohe Preise für ihre Produkte. Sie liegen bei durchschnittlich 400 Euro pro Quartal. Und das ist eben nur in Ordnung, wenn die Anwendung auch hilft. Das zeigt, wie groß die Gefahr ist, dass Fehlentwicklungen in Analogie zu Scheininnovationen und Metoo-Präparaten in der Pharmaindustrie hier relativ früh (entsprechend den Entwicklungen auf dem digitalen Markt) und im Eiltempo eintreten. Ähnlich wie DiGA können auch DiPA dazu dienen, Pflegebedürftigen wieder zu mehr Selbständigkeit zu verhelfen und im Idealfall ihre Pflegebedürftigkeit zu mindern. Bisher sind noch keine DiPA vom BfArM zugelassen. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfahrungen aus der schnellen Einführung der DiGA in den Zulassungsprozess der Pflege-Anwendungen einfließen. Denn wie auch die DiGA haben DiPA das große Potenzial, den Alltag von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen nachhaltig zu verbessern und die Lebensqualität zu erhöhen. ■

Die schnelle Einführung und Zulassung von DiGA hatte zur Folge, dass nicht jedes Angebot umfassend auf seinen konkreten Nutzen geprüft wurde.

Dr. Pedram EmamiPräsident, Ärztekammer Hamburg

Wenn DiGA einen ähnlichen Stellenwert wie Medikamente oder Therapien erhalten sollen, dann müssen sie ihre Tauglichkeit in Studien unter Beweis gestellt haben.

Dr. Pedram EmamiPräsident, Ärztekammer Hamburg
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