Konkurrenzdenken überwinden und Versorgungskrise lösen

Prof. Dr. h. c. Christel Bienstein

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2023

Die Menschen in Deutschland werden älter, viele Menschen sind chronisch erkrankt. Daraus ergeben sich neue Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung, denn chronisch erkrankte und alte Menschen brauchen mehr als Medizin: Sie benötigen kontinuierlich gute Anleitung, Beratung und Begleitung zum Selbstmanagement sowie den vorausschauenden Aufbau von Unterstützung, bis sich ihre Situation stabilisiert hat oder der individuellen Pflege- und Behandlungssituation angepasst ist. Dafür müssen Medizin und Pflege viel stärker ineinandergreifen als bisher.

Gleichzeitig steht immer weniger Fachpersonal zur Verfügung, das diesen Bedarfen gerecht werden kann. Das betrifft die Pflege ebenso wie die Medizin und die Therapieberufe. Dieser Mangel kann in den bestehenden Strukturen weder durch Ausbildungsinitiativen, neue Technologien noch durch Anwerbungen von Fachpersonen aus dem Ausland allein behoben werden.

Aufgaben neu verteilen

Angesichts der angespannten Situation in allen Gesundheitsberufen ist es unbegreiflich, dass die ärztlichen Kolleg: innen trotz ihrer Überlastung an den überkommenen Strukturen in der Gesundheitsversorgung festhalten und sich nicht auf neue Versorgungsmodelle einlassen wollen.

In Deutschland fußt die ambulante Versorgung auf hausärztlichen Einzelpraxen. Gehen Hausärzt:innen in Rente, findet sich gerade im ländlichen Raum keine Nachfolge mehr und auch bei den Medizinischen Fachangestellten herrscht Personalnot. Diese Probleme lassen sich nicht allein durch mehr Studienplätze in der Medizin, mehr Vergütung und weniger Bürokratie oder smarte Apps lösen. Die ambulante Versorgung muss insgesamt als starke Primärversorgung neu aufgestellt werden. Insbesondere chronisch kranke und alte Menschen brauchen Medizin und Pflege, die Hand in Hand arbeiten.

Damit die Schnittstellen besser funktionieren, müssen Pflegefachpersonen berechtigt werden, ihr Können umfänglich einzusetzen. Basis dafür ist die Zuerkennung zur Ausübung heilkundlicher Aufgaben, damit die Kompetenzen optimal genutzt und ineffektive Doppelstrukturen abgebaut werden. Es ist absurd, dass die ärztlichen Kolleg:innen Pflege und Pflegehilfsmittel verordnen, obwohl die Erhebung des Pflegebedarfs und Steuerung des Pflegeprozesses Vorbehaltsaufgaben von Pflegefachpersonen sind. Wenn Pflegefachpersonen jeweils eine ärztliche Anordnung für ihre Tätigkeit benötigen und diese auch noch organisieren müssen, verschwenden wir Potenzial und Ressourcen. Das können wir uns nicht mehr leisten. Die politische Aufgabe liegt darin, ein nationales Heilberufegesetz auf den Weg zu bringen, das eine effektive Aufgabenverteilung möglich macht.

Sektorengrenzen überwinden

Die Grenzen zwischen den einzelnen Sektoren im Gesundheitswesen werden schon lange als Problem angesehen, das sich in der Versorgungsqualität niederschlägt. Es gibt in Deutschland keine gesetzlich verankerte Struktur, die eine bessere interprofessionelle und intersektionale Zusammenarbeit ermöglicht. Die Übergänge zwischen stationärer und ambulanter Versorgung einerseits und Leistungen nach SGB V und SGB XI andererseits sind nicht koordiniert, weil unklar ist, wer welchen Versorgungsauftrag zu erfüllen hat.

Dies zeigt erneut der Pflege-Report 2023 der AOK: Die Schnittstellen zwischen ärztlicher Versorgung und Langzeitpflege funktionieren nicht strukturiert. Das führt beispielsweise dazu, dass in manchen Regionen unnötige Krankenhauseinweisungen von Pflegeheimbewohner: innen in hoher Zahl auftreten. Verursacht werden unnötiges Leid und hohe Kosten.

Die Regierungskommission hat in ihren Vorschlägen zur Krankenhausstrukturreform einen Weg aufgezeigt, der das Potenzial hat, die Versorgungssituation zu verbessern: Level-1i-Krankenhäuser, die eine ambulantstationäre Grundversorgung leisten – und am besten unter pflegefachlicher Leitung stehen –, können dazu beitragen, die stationäre Überversorgung abzubauen und eine bedarfsgerechte Versorgung vor Ort zu erreichen. Sie koordinieren die Überleitung vom stationären in den ambulanten Sektor, bieten eine wohnortnahe Basisversorgung, übernehmen die Vor- und Nachsorge nach ambulanten oder stationären Eingriffen und Behandlungen. Zusammen mit neuen Primärversorgungsangeboten wie Community Health Nurses in Primärversorgungszentren, Gesundheitskiosken, im Öffentlichen Gesundheitsdienst oder in ambulanten Pflegediensten können Schnittstellen wesentlich besser ausgestaltet werden, die aktuell noch ein Problem darstellen.

Leider ist im aktuellen Eckpunktepapier aus dem BMG von einer grundlegend neuen Struktur nicht mehr viel zu erkennen.

Das Potenzial der Pflegefachlichkeit heben

Für die professionelle Pflege ergeben sich daraus neue Handlungsfelder und Verantwortungsbereiche, die eine akademische Qualifikation erfordern. Eine hohe Quote akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen, insbesondere Advanced Practice Nurses mit Masterabschluss, verhindert unnötige Krankenhauseinweisungen aus Pflegeeinrichtungen, minimiert das Risiko für Komplikationen im Krankenhaus oder Rehospitalisierungen nach stationären Behandlungen.

Im ambulanten Bereich sind es die Community Health Nurses, die durch ihre Angebote Pflegebedürftigkeit verzögern und Krankenhausaufenthalte für Menschen mit chronischen Erkrankungen verhindern können – all das ist gut durch Studien belegt. Zudem steigern neue Karrierewege die Berufszufriedenheit und können Menschen langfristig im Pflegeberuf halten.

Allerdings liegen wir in Deutschland im internationalen Vergleich um Lichtjahre hinter den Akademisierungsquoten anderer Länder zurück. Der Ausbau von Studienangeboten ist eine Voraussetzung, um hier besser und international anschlussfähig zu werden.

Damit die Schnittstellen besser funktionieren, müssen Pflegefachpersonen berechtigt werden, ihr Können umfänglich einzusetzen.

Prof. Dr. h. c. Christel BiensteinPräsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe
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