Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022
Unsere Welt, wie wir sie bislang kennen, verändert sich im Sekundentakt. Ein digitaler Wandel, hervorgerufen u. a. durch disruptive Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI). Bereits heute kommt KI in einer Häufigkeit und Intensität in unserem Alltag zur Anwendung, deren Dimension vielen nicht bewusst ist.
Übersteigerte Befürchtungen und unrealistische Hoffnungen bringen KI nicht voran
Das schnelle Tempo, mit dem KI sich weltweit fortentwickelt, übersteigt etliche der Zukunftsszenarien, die noch vor wenigen Jahren hierzu entwickelt wurden. Gleichzeitig hat KI nichts mit abstrakten Science-Fiction- Szenarien zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine disruptive Schlüsseltechnologie, die großes Potenzial für Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft eines jeden Landes bietet und dessen globale Wettbewerbsfähigkeit immens voranbringen kann. Nicht nur, aber gerade auch in Innovationsbereichen wie Life Sciences und dem Gesundheitsbereich.
Hier bietet KI eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Diese reichen u. a. von Prävention, Diagnostik (z. B. KI-basierte Bildgebungsbefunde) über Therapie bis hin zu Unterstützung bei administrativen, operativen und repetitiven Abläufen wie z. B. bei der Überprüfung der Aktualität von Patientendaten oder standardisierten Reportingaufgaben.
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es bei KI keine „One-Size-Fits-All-Lösung“ gibt. Und dass weder übersteigerte Befürchtungen noch unrealistische Hoffnungen in Bezug auf den Einsatz von KI sinnvoll sind, will man deren umfangreiches Potenzial und die damit einhergehenden Chancen sinnvoll nutzen.
Zudem kann KI es ermöglichen, die richtigen Ziele für F & E zu identifizieren und bei der Priorisierung von Wirkstoffen zu unterstützen. Rund 50 % der zu testenden Wirkstoffe schaffen es aufgrund von mangelnder Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht durch Phase- II- und Phase-III-Studien. Ein somit nicht unerheblicher Aspekt, um Erfolgsraten bei der Arzneimittelentwicklung zu erhöhen, die Entwicklungszeit zu verkürzen sowie starke und nachhaltige Arzneimittel-Pipelines aufzubauen.
Immer größere Rolle für BigTech
Etliche Länder haben die Chancen von KI bereits rechtzeitig erkannt und ihr strategisches Vorgehen angepasst. Bei diesen Ländern handelt es sich nicht nur um die oft genannten USA und China, sondern auch EU-Staaten wie z. B. Estland und Dänemark sowie Südkorea, Taiwan und Israel. Gleiches gilt für die großen weltweiten Tech- Konzerne, sog. Big Tech, die schon vor Jahren ihre KI-basierten Geschäftsmodelle von vielen unbemerkt verstärkt auf den Gesundheitsbereich ausgerichtet haben.
Facebook zum Beispiel hat mit dem Tool „Preventive Health“ 2019 einen Vorstoß in den Markt der personalisierten digitalen Gesundheitstools öffentlich bekanntgegeben. Amazon erweiterte 2018 seine digitale Gesundheitsplattform im Bereich Gesundheitslogistik mit der Übernahme der US-amerikanischen Online-Apotheke Pillpack. 2019 folgte die Übernahme des Telemedizin- Start-ups Health Navigator, ungefähr einen Monat, nachdem Amazon die virtuelle Gesundheitsklinik Amazon Care als nichtstaatlichen Gesundheitsdienstleistungsanbieter für seine Mitarbeitenden in Seattle gegründet hatte. Das Angebot von Amazon Care umfasst sowohl persönliche als auch virtuelle Betreuung mittels Telemedizin über App, Chat, Remote-Video etc. Ein Programm auch über die eigene Belegschaft hinaus erweiterbar.
Zudem ist im Zusammenhang mit Big Tech ein besonderes Augenmerk auf deren strategische Zusammenarbeit mit traditionellen Playern auf dem Gesundheitsmarkt zu richten. Schon 2017 konnten Interessierte auf eine Erste-Hilfe-Anwendung zugreifen, welche von der renommierten Mayo Clinic in Zusammenarbeit mit Amazon und Alexa entwickelt wurde und umfangreiches Wissen und Erläuterungen rund um Erste-Hilfe- Anleitungen angeboten hat. Ebenso kam Alexa als Sprachassistentin für Nutzer:innen mit einem Alexa-fähigen Gerät zum Einsatz, indem anhand des Tools „Mayo Clinic Answers on Covid-19“ Informationen zur Pandemie direkt von Expert:innen der Mayo Clinic bezogen werden konnten.
Dem zugrunde liegen – gerade in den USA und Teilen Asiens – umfassende staatliche Innovations- und Hightech- Strategien, der Aufbau Start-up-freundlicher KIÖkosysteme und das Zurverfügungstellen von Risikokapital, auch durch staatliche Stellen in großem Stil. Für Branchen wie Life Sciences mit großem Investitionsbedarf ein wesentlicher Treiber für ein Mehr an Innovation.
In Deutschland hat die digitale Transformation des Gesundheitswesens in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht, aber es bedarf weiterhin dringender Verbesserungen hin zu einem Mehr an Innovation. Auch ist ein zunehmendes Interesse am Einsatz von KI-Technologien zu erkennen. Allerdings mit regional deutlich erkennbaren Unterschieden bei der tatsächlichen Implementierung und Anwendung von KI.
Der europäische Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS)
Die Problematik des oftmals unzureichenden Datenaustauschs zwischen den verschiedensten Beteiligten im Gesundheitsbereich sowie der Datenzugang spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ohne Daten keine KI. Dabei geht es aber nicht um irgendwelche Daten, sondern es bedarf des Zugangs zu großen Mengen an Daten von sehr guter Qualität.
Eine Tatsache, die bereits heute nicht nur die deutsche KI-Szene, sondern den Gesundheitssektor per se vor große Herausforderungen stellt. Einhergehend mit Europäischen Datenschutzanforderungen (DSGVO), deren unterschiedliche Auslegung und Anwendung in der öffentlichen Diskussion ebenso oftmals als Hemmnis für Forschung, Innovation und dringend benötigte Investitionen genannt wird.
Der Vorschlag der Europäischen Kommission (EC) für einen Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) vom 3. Mai 2022 ist als Chance zu sehen, diese Herausforderungen zu überwinden. Ziel dieses Vorhabens ist es, Regeln für einen einheitlichen europäischen Gesundheitsdatenraum festzulegen. Und dadurch den Zugang natürlicher Personen zu deren Gesundheitsdaten und die Kontrolle darüber zu gewährleisten.
Zudem könnte der EHDS dazu beitragen, einen effektiven Binnenmarkt für die Entwicklung und Nutzung innovativer Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen basierend auf Gesundheitsdaten zu verbessern und sicherzustellen.
In einem immer stärker vernetzten globalen, digitalen Gesundheitswesen ist dies ein in seiner Dimension und Wichtigkeit nicht zu unterschätzender Aspekt; allerdings einhergehend mit den damit verbundenen Herausforderungen in Bezug auf Interoperabilitätsstandards, Transparenz bei Einwilligung, Anonymisierung und sicherer Datenaustausch, um nur einige zu nennen.
EU AI Act: Innovationstreiber oder -hemmnis?
Das Zusammenspiel zwischen dem EHDS und anderen Rechtsvorschriften rund um Daten gilt es dabei zwingend zu berücksichtigen. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf den im April 2021 durch die Kommission vorgelegten Entwurf zur Regulierung von KI in der Europäischen Union (EU) zu legen (EU AI Act).
Auf der KI-Bühne stellt dieser Verordnungsentwurf eines der wichtigsten Gesetzesvorhaben für Europa in den kommenden Jahren dar. Mit diesem Entwurf hat es Europa in der Hand, die Weichen für „AI Innovation made in Europe“ zu stellen. Mit großen Auswirkungen auch auf den bereits durch anderweitige Regularien wie z. B. der Verordnung über Medizinprodukte stark reglementierten Bereich Gesundheit und Life Sciences in Deutschland. Und dem in diesem Bereich großen Potenzial an Innovation aber auch Bedarf an Investition.
Gerade auf potenzielle Investor:innen u. a. aus Nicht- EU Staaten mit Interesse an „Life Sciences made in Germany“, würden eine Überregulierung von KI und bürokratische Hemnisse eher eine abschreckende Wirkung entfalten. Für deutsche KI-Start-ups und KMUs sind diese Investoren gerade in investitionsintensiven Bereichen wie Life Sciences eine interessante Alternative.
Europa muss es mit seinem demokratie-, vertrauensund wertebasierten KI-Ansatz daher mit dieser Regulierung gelingen, den Spagat zwischen der dringend benötigten Innovations- und Investitionsförderung auf der einen und Grundrechtsschutz auf der anderen Seite zu schaffen.
Eine finale Verordnung, die eine KI-Regulierung mit Augenmaß, flexibel und ohne Überregulierung beinhaltet, kann Europa und Deutschland als Innovationsstandort auch im Bereich Life Sciences entscheidend nach vorne bringen. Eine zu starke Regulierung hingegen wird Innovation und Investitionen langfristig schaden. Mit negativen Konsequenzen auch für das gesamte Gesundheitswesen und Life Sciences.
Aktuell finden in Brüssel weiterhin Abstimmungen zu diesem Regulierungsentwurf statt. Wann mit einem Ergebnis zu rechnen ist, lässt sich angesichts der hierzu bestehenden großen Differenzen insbesondere auf politischer Ebene nicht mit Gewissheit vorhersagen. Anzuraten ist jedoch eine zeitnahe Entscheidung im kommenden Jahr für mehr Rechtssicherheit für alle Stakeholder.
Innovation entsteht durch interdisziplinären Austausch und digitale Transformationsprozesse
Gegenwart und Zukunft können gestaltet werden. Unsere Aufgabe und Verantwortung ist es, dies auch für kommende Generationen bestmöglich zu tun. Für mich ist daher nicht die entscheidende Frage „Wie müssen wir mit KI in Zukunft aufgestellt sein, wenn wir über Gesundheit und Life Sciences sprechen?“ Sondern: „Wo sollte man bereits jetzt stehen?“ Wann, wenn nicht jetzt, sollte damit begonnen werden, digitale Innovation so zu nutzen, dass die Gesellschaft bestmöglich davon profitieren kann?
Innovation lebt von interdisziplinärem Austausch. Auch mit der Politik, wenn es um das Schaffen innovationsfreundlicher regulatorischer Rahmenbedingungen für KI geht. Und es braucht neue Lösungen auf neue Fragen. Eine Änderung des Mindset. Weg von einer Kultur der Fehler- und Risikovermeidung hin zu einem Mehr an Innovation.
Lassen Sie uns daher bereits heute beginnen, den digitalen Status quo zu hinterfragen. Mit dem Ziel, KI zu verwenden. Für ein nachhaltiges, digitales Gesundheitswesen, bei dem Innovation in Schlüsselbereichen wie Life Sciences zum besten Wohle aller gefördert wird.