„Der Ukraine-Krieg ändert unsere strategische Planung nicht“
Die VIG will ihre Marktführerschaft in den Ländern Ost- und Zentraleuropas weiterhin ausbauen. Die rund 1400 ukrainischen Mitarbeiter haben den Geschäftsbetrieb weitgehend wieder aufgenommen – teilweise vom Schreibtisch im Ausland aus.
Wie wird sich nach Ihrer Einschätzung der Ukraine-Krieg langfristig auf die Wirtschaft der zentral- und osteuropäischen Länder auswirken?
Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich zunächst einmal, aber nicht allein durch den Ukraine-Krieg, sondern auch durch den damit verbundenen Inflationsanstieg und durch Lieferketten-Probleme. Eine Rezession bleibt aber laut Wirtschaftsprognosen für die meisten Länder vermeidbar. Es ist derzeit sehr schwer, Schätzungen abzugeben, da wir zu viele Einflussfaktoren haben, wo derzeit auch niemand sagen kann, wann deren Einfluss geringer oder unbedeutend wird, allen voran wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert oder ob Russland erneut seine Energie als Waffe einsetzen wird. Sollten Öl und Gas im Winter rationiert werden müssen, könnten wir alle und auch Osteuropa in eine Rezession schlittern. Es ist davon auszugehen, dass der Aufholprozess von CEE gegenüber Westeuropa in nächster Zeit verlangsamt wird. Eine Prognose, wann wir wieder jene Situation wie vor der Pandemie haben werden, wo die Regel galt, das Wirtschaftswachstum in CEE ist im Schnitt mindestens doppelt so hoch wie in Westeuropa, wage ich derzeit nicht zu geben. Ich bin aber überzeugt, dass wir diese Situation wieder vorfinden werden, denn es ist in dieser Region noch viel Wachstumspotential auch für die Versicherungen vorhanden. Die Versicherungsdurchdringung in CEE beträgt im Durchschnitt weniger als ein Zehntel von jener in Westeuropa.
Ihre Versicherung fokussiert sich auf diese Wachstums-Region, baut die Markführerschaft in den Ländern aus. Welche Folgen erwarten Sie für Ihr Geschäft?
Wir haben während der Pandemie hohe Resilienz gezeigt und zeigen sie auch aktuell. Wir konnten im operativen Geschäft bereits Mitte des Vorjahres wieder das Niveau vor Corona erreichen und 2019 hatten wir ein sensationell gutes Jahr. Ich führe das unter anderem auf unsere erfolgreiche diverse Aufstellung der Gruppe zurück und die rasche lokale Handlungsfähigkeit unserer operativen Gesellschaften. Wir sind mit rund 50 Gesellschaften unter verschiedenen Marken und einem stringent verfolgten lokalen Unternehmeransatz in 30 Ländern tätig. Es hat uns auch geholfen, sich rechtzeitig mit der Digitalisierung beschäftigt zu haben, die sich gerade in der Pandemie als Schlüsselinstrument zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes und vor allem der Kundenservicierung erwiesen hat. Wir sehen uns weiterhin in der Lage, die Herausforderungen gut zu managen. Aber natürlich beeinflussen die geopolitischen und wirtschaftlichen Situationen auch unser Geschäft, worauf wir reagieren müssen. Zum Beispiel auf den gestiegenen Kostendruck, der sich durch den niedrigen Realzins und die Margenverknappung durch die anhaltende Inflation ergibt. Wir müssen auch mit einer geringeren Nachfrage nach Versicherungen auf Grund von inflationsbedingten Kaufkraftverlusten rechnen, wofür wir uns stärker auf Plattformen und in Ökosystemen positionieren, um neue Kundenzugänge zu forcieren. Wir haben dazu ein aktuelles Strategieprogramm VIG 25, wo wir bis Ende 2025 zahlreiche Initiativen setzen, um zukunftsfit zu bleiben.
Inwieweit verändert der Ukraine-Krieg Ihre CEE-Strategie?
Im Strategieprogramm VIG 25 haben wir festgelegt, unsere Marktführerschaft in der CEE-Region zu halten und weiter auszubauen. Wir haben dafür unseren Kernmarkt CEE neu definiert, es umfasst 20 Länder, die wir nach lokaler Marktsituation, Wachstumspotentialen, Ertragschancen und weiteren KPIs gescreent haben. Daraus planen wir entsprechende lokale Zielsetzungen und Aktivitäten. Wir haben unsere strategischen Pläne auf Grund des Ukraine-Krieges überprüft und sehen keine Veranlassung daran etwas zu ändern. Die VIG verfolgt eine Langzeitstrategie in ihren Märkten, bisher wurde erst ein einziger Markt wieder verlassen, nämlich Russland und das bereits 2012.
Wir sind seit 2004 auch direkt in der Ukraine mit drei Versicherungsgesellschaften vertreten, die rund 100 Mio. Euro Prämienvolumen erwirtschaften. Im Verhältnis zum Gesamtprämienvolumen von 11 Milliarden Euro ist der Anteil gering, aber wir hatten vor Kriegsbeginn die Ukraine als Markt mit überproportionalem Marktwachstum definiert. Derzeit steht für uns nicht der wirtschaftliche, sondern der menschliche Aspekt und die Sorge um unsere rund 1.400 Mitarbeiter im Vordergrund. Wir haben unmittelbar nach Kriegsausbruch innerhalb der Gruppe mit koordinierten Hilfs- und Unterstützungsaktionen, vor allem in den Nachbarstaaten zur Ukraine, begonnen. Unsere Gesellschaften haben Wohnungen für die Mitarbeiter und deren Familienangehörige organisiert und ausgestattet. Mehr als 500 Personen konnten wir so in Wohnen unterbringen. Wir haben den „VIG Family Fund“ mit 5 Millionen Euro Basisdotierung initiiert. Unsere Gesellschaften und auch die Mitarbeiter zahlen laufend in diesen Fond ein. Mit dem Geld wollen wir betroffene Familien unserer ukrainischen Gesellschaften direkt für den Wiederaufbau zerstörter Wohnungen und Häuser sowie für kriegsbedingte persönliche Härtefälle unterstützen. Die Solidarität innerhalb unserer Gruppe ist einfach großartig. Der Geschäftsbetrieb ist mittlerweile auch wieder so gut wie voll aufgenommen. Wir sind in den umkämpften Regionen im Osten der Ukraine nicht vertreten. Zu Kriegsbeginn wurden klarerweise alle Tätigkeiten eingestellt, aber unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen sind sehr engagiert und halten den Geschäftsbetrieb wieder aufrecht. Selbst Mitarbeitende, die teils mit ihren Familienangehörigen geflüchtet sind, arbeiten von auswärts mit ihren Laptops und wollen für das Unternehmen und die Kundinnen und Kunden da sein. Ich habe großen Respekt vor der Loyalität und dem Engagement unserer ukrainischen Kolleginnen und Kollegen.
Die Corona-Pandemie und neue Insurtech-Firmen haben die Digitalisierung in Ihrer Branche beschleunigt. Wie entwickeln sich dadurch Ihr Geschäftsmodell und Ihre Produkte weiter?
Wir nutzen die Digitalisierung, um Serviceleistungen kontinuierlich zu erweitern, die einen Zusatznutzen zur Absicherung von Risiken und Leistungserbringung bieten. Wir erachten diese nutzenbasierten Angebote als Notwendigkeit, wenn wir als Versicherung in Zukunft bei den Kunden im „relevant Set“ der Dinge, die fürs Leben als wichtig erachtet werden, vorkommen wollen. Die Pandemie hat vor allem das Gesundheitsbewusstsein geschärft und wir haben darauf mit neuen digitalen Lösungen reagiert. Unsere österreichische Gesellschaft Wiener Städtische bietet beispielsweise einen auf künstlicher Intelligenz basierenden digitalen Gesundheitsassistenten zur Abklärung von Symptomen mittels einer App an. Dazu arbeiten wir mit einem Start-up zusammen. Unsere bulgarische Gesellschaft Bulstrad Life hat eine App auf den Markt gebracht, die dem Kunden auf Knopfdruck nicht nur alle Versicherungsdetails und verfügbaren medizinischen Einrichtungen in seiner Nähe anzeigt, sondern auch die einfache Terminvereinbarung und einen vertraulichen Datenaustausch mit dem Arzt ermöglicht. Wir bemerken, dass Kunden auch vermehrt Angebote wünschen, die ihre persönlichen Lebensumstände berücksichtigen und diese auch honorieren. Dafür bietet zum Beispiel unsere ungarische Gesellschaft Union mit „Fitpuli“ eine digitale Gesundheitsplattform an. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen in unserer Gruppe, die auch andere Versicherungsbereiche betreffen.
Wir werden künftig unsere Versicherungslösungen verstärkt auf Plattformen anbieten. Wir wollen in für uns relevanten Ökosystemen stärker vertreten sein. Hier haben wir die Themen Gesundheit, Auto und Wohnen im Fokus. Wir werden einen Wandel vom Wettbewerb der Branchen hin zum Wettbewerb der Ökosysteme erleben. In einem Ökosystem kooperieren Unternehmen unterschiedlicher Art, die alle gemeinsam Produkte und Dienstleistungen gestalten, die sich nach den Kundenbedürfnissen eines Ökosystems orientieren und nicht nach den Angeboten der einzelnen Partner. Es werden sich nicht mehr einzelne Firmen, sondern die Anbieter gemeinsam in den verschiedenen Ökosystemen um die Gunst des Kunden bemühen. Wichtig ist somit, künftig ein Teil dieser Systeme und ein Partner zu sein, um dem Kunden die für ihn optimalen Angebote und Services zu bieten. Wenn wir das Ökosystem Auto nehmen, dann arbeiten wir hier zum Beispiel mit dem Auto Abo Start-up „ViveLaCar“ zusammen. Unser Ziel ist es, vom Kfz-Versicherer zum Mobilitätsversicherer zu werden. Das heißt, sich mit den Zukunftsmodellen und Trends auseinanderzusetzen. Wir haben uns an dem deutschen Start-up ViveLaCar beteiligt, da wir hier ein modern orientiertes Mobilitätskonzept mit Zukunftspotential sehen. Es entspricht dem Zeitgeist, da dieses Angebot völlig digital und flexibel ist, sowie eine transparente Kostenstruktur aufweist. Das Modell entspricht auch dem wachsenden „sharing economy“ Gedanken.
Wird die Digitalisierung nach Ihrer Einschätzung künftig auch die Risikoanalyse der Versicherungen verändern?
Zweifellos, und die digital unterstützte Risikoanalyse hilft auch bei personalisierten Angeboten. Eine unserer polnischen Gesellschaften arbeitet unter Nutzung von künstlicher Intelligenz an der Entwicklung einer völlig neuartigen Tarifgestaltung in der Kfz-Versicherung. Ziel ist es, von der bisher üblichen Tarifgestaltung unter Heranziehen statistischer Daten aus der Vergangenheit und interner Berechnungsmodule, hin zur Berücksichtigung individueller Risiko- und Verhaltensmerkmale der Kunden, deren ganz persönlicher Anforderungen und dem Einbezug aktueller Marktentwicklungen zu kommen. Das soll letztendlich zu einer individuellen Preis- und Produktgestaltung auf Knopfdruck in Echtzeit führen. Aber auch beim so wichtigen Thema Klimawandel wird uns die künstliche Intelligenz bei der Risikoeinschätzung stärker unterstützen. Mit Hilfe von Poollösungen können die Risiken der Naturkatastrophen über Bevölkerungen und Regionen hinweg diversifiziert werden. Ein Problem liegt darin, dass Risiken auf der Grundlage historischer Schadenverläufe bewertet werden, das reicht aber angesichts der Entwicklungen durch den Klimawandel nicht mehr. Wir müssen neue Wege gehen und verstärkt moderne Technologien einsetzen, wie zum Beispiel die Nutzung von Satellitenbildern und Daten aus sozialen Medien und die Digitalisierung, um die Trends und Umweltveränderungen in Echtzeit, statt im Rückblick, zu erfassen.
Die VIG investiert in nachhaltige Produkte und hat bereits eine Benchmark-Nachhaltigkeitsanleihe platziert. Welchen Stellenwert haben für Sie die ESG-Ziele und wo setzen Sie Schwerpunkte?
Nachhaltigkeit ist in unserem Kerngeschäft verankert und wir setzen natürlich in jedem ESG-Kriterium Maßnahmen. Einen besonders großen Hebel sehe ich in der Veranlagung. Versicherungsgesellschaften sind wichtige Kapitalgeber für die Volkswirtschaften und sorgen dafür, dass die Wirtschaft und damit auch die Gesellschaft floriert. Die Versicherungen sind mit einem Veranlagungsvolumen von 10,5 Billionen Euro der größte institutionelle Investor in Europa. Sie können mit ihren Investmententscheidungen indirekte Sozial- und Umweltauswirkungen unterstützen. Wir forcieren Investitionen in erneuerbare Energien und haben unseren Bestand an Green Bonds innerhalb von vier Jahren auf 436 Mio. Euro versechsfacht. Die Vienna Insurance Group hat wie von Ihnen angesprochen 2021 als erste Versicherung Europas eine Benchmark Nachhaltigkeitsanleihe im Volumen von 500 Mio. Euro begeben, die wir zu 80 % in grüne und zu 20 % in soziale Projekte investieren. Wir setzen auch bewusst Schwerpunkte im sozialen Bereich und forcieren hier zum Beispiel leistbares Wohnen. Leistbares Wohnen sollte nicht die soziale Frage unseres Jahrhunderts sein. Wir setzten hier seit vielen Jahren aktiv Maßnahmen und wollen diese weiter auch in Richtung grüner Nachhaltigkeit verstärken. Unser aktuelles Engagement ist die Kooperation mit dem Immo-Start-up Gropyus, das sich auf nachhaltiges und leistbares Wohnen als Gesamtkonzept spezialisiert hat.
Durch Digitalisierung kostengünstig alles aus einer Hand zu planen, herzustellen und mittels integriertem Smart Living System modernes Wohnen zu schaffen, dies alles ressourcenschonend und mit nachhaltigen Rohstoffen, sehen wir als Wohnraumbeschaffung der Zukunft.
Inwieweit rechnen Sie damit, dass Klimaveränderungen die Gefahr von Naturereignissen und damit auch die Versicherungskosten steigern werden?
Das ist bereits Tatsache. Laut dem aktuellen Global Risk Report 2022 führen die zehn größten Risiken für die Welt in den kommenden 10 Jahren das Scheitern von Klimaschutzmaßnahmen, extremes Wetter und der Verlust von Biodiversität an. Damit manifestiert sich der Klimawandel und seine Auswirkungen als Treiber der globalen Risiken der nächsten Jahre. Für die Versicherungsbranche war 2021 weltweit das zweitteuerste Naturkatastrophenjahr bisher. In Österreich war 2021 das Jahr mit der höchsten Belastung durch Naturkatastrophen überhaupt. Wir hatten im Vorjahr weltweit Schäden durch Naturkatastrophen von 280 Milliarden US-Dollar, 120 Milliarden davon waren versichert. In Europa waren die Sturzfluten und Überschwemmungen mit 54 Milliarden US-Dollar das teuerste Schadenereignis, in Deutschland die teuerste Naturkatastrophe bislang. Die Kaskade kann von weltweit zu lokal hinuntergebrochen werden und zeigt uns klar, dass das Klimathema oder gröber gefasst, das Nachhaltigkeitsthema angekommen bzw. gekommen ist, um zu bleiben. Als Vienna Insurance Group haben wir den Anspruch, dass ökonomische, gesellschaftliche und umweltbezogene Ziele Hand in Hand gehen. Das bedeutet, dass wir aktiv an der Schaffung einer lebenswerten Zukunft mitarbeiten wollen. Das sollte und muss im Interesse aller sein, denn in einer kaputten Welt wird niemand wirtschaftlich oder in sonst einer Form erfolgreich sein.
Die Fragen stellte Sabine Haupt