Handelsblatt Jahrestagung Stadtwerke 2022: Empowerment für die beschleunigte Energiewende – auf allen Ebenen!

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Empowerment und Veränderungsbereitschaft in der Versorgungswirtschaft – in turbulenten Zeiten erfindet sich die Branche neu

Von Dr. Anke Schäfer

Unsere Zeit ist arm an Konstanten geworden. Da ist es fast schon beruhigend, dass sich immer noch für jede Situation ein passender Spruch von Johann Wolfgang von Goethe finden lässt. Sein berühmtes Zitat aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ könnte daher auch das Leitmotiv der diesjährigen „Handelsblatt Jahrestagung Stadtwerke 2022“ sein, die am 10. und 11. Mai 2022 hybrid (sowohl vor Ort im Pullman Berlin Schweizerhof als auch digital) stattfindet:

„Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“

„Zukunft zusammen erfinden“

 Frank Kindervatter, Vorstandsvorsitzender der NEW AG, stellte Goethes Credo an den Schluss seines motivierenden Quick-Wins zu Beginn des ersten Veranstaltungstages. Die Überschrift seines fünfminütigen Vortrags steht dabei durchaus stellvertretend für die existentiellen Herausforderungen, denen sich die gut 1.000 aktiven Stadtwerke in Deutschland gegenübersehen: „Wir müssen Druck auf den Kessel bringen. Und zeigen, dass es geht!“

„Zukunft zusammen zu erfinden“ heißt, nicht passiv abzuwarten, sondern Veränderung selbst in die Hand zu nehmen – mit viel Kreativität, nachhaltigen Innovationen (z. B. in On-demand-Verkehrsangebote, E-Mobility und ein ökologisches Flächenmanagement), Investitionen in saubere Energien und Ressourcen, starken Partnerschaften und  dem Anspruch, selbst Vorbild und engagierter Vorreiter zu sein. Das sei im Großen wie im Kleinen möglich – z. B. bei der Ausbildung zertifizierter Energiescouts oder durch die Förderung digitaler Start-ups.

Fakt ist: Wir leben in historischen Zeiten. Krisen, die uns (bereits jede für sich genommen) an die Grenzen des Ertragbaren führen (denken wir nur an die weltweiten Verwerfungen durch den Klimawandel, die gravierenden Folgen der Corona-Pandemie und die realen Bedrohungen durch einen brutalen Angriffskrieg im Herzen Europas), folgen nicht mehr aufeinander, sie verschränken sich und haben einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Wirtschafts-, Klima- und Energiepolitik mit all ihren industriellen, gesellschaftlichen und sozialen Implikationen.

Dieses Zusammenspiel zu betrachten (von galoppierenden Energiepreisen, Lieferengpässen und steigenden Inflationsraten über die angestrebte Unabhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen bis hin zur Erarbeitung detaillierter Priorisierungen im konkreten Fall einer bundesweiten Gasmangellage) ist ebenso faszinierend wie beängstigend, zeigt es doch in vivo, wie verletzlich unsere global vernetzte Gesellschaft ist.

Umso mehr geht es um ein wirksames Enable- und Empowerment – und das auf allen Ebenen, wie Dr. Tanja Wielgoß, Vorstandsvorsitzende der Vattenfall Wärme Berlin AG, ansprach. Der Begriff Change Management treffe das nur ungenau. Es braucht die Begeisterung, Kraft, Dynamik, Fitness und Resilienz aller. Nur dann seien die enormen Herausforderungen einer derart tiefgreifenden Transformation zu bewältigen. Vattenfall setze hier auf einen Technologiemix. Durch die Errichtung einer integrierten Systemwarte in Marzahn könne so auch besser mit der immanenten Volatilität in Preis und Erzeugung umgegangen werden. Wielgoß merkte an, dass der Begriff Fernwärme etwas irreführend sei. Der Terminus „Stadtwärme“ (in der Stadt für die Stadt produziert) trifft es besser und könnte so auch eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung erzielen.

Grüne Standards setzen, schnell und flexibel agieren

Für Prof. Dr. Felix Creutzig, Koordinierender Leitautor des Fünften IPCC Sachstandsberichtes, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change gGmbH, haben Stadtwerke „viele Möglichkeiten, ihre Nachfrage zu managen, um die Bereitstellung von (fossiler) Kapazität zu verhindern“ – z. B. indem sie grüne Standards setzen (green energy defaults), eine direkte Laststeuerung einführen und spürbare Anreize zum Energiesparen schaffen (Boni und soziale Normen als persönliches Feedback).

Dr. Patrick Graichen, Beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, sieht die Stadtwerke geradezu prädestiniert, um eine erfolgreiche und sozial gerechte Energiewende umzusetzen. Auch er betont, dass der Ukrainekrieg „viele Konstanten über den Haufen geworfen hat“, z. B. den bislang fest verankerten Glauben, dass russische fossile Brennstoffe für uns immer und billig zur Verfügung stünden. Dieser Umstand hat die Dringlichkeit der von der neuen Bundesregierung ohnehin geplanten Pakete zum Ausbau erneuerbarer Energien nur verstärkt.

Den Stadtwerken attestierte Graichen „riesige Potentiale“, sie wüssten, wo die Reise hinginge und könnten schon heute den Rückbau der bestehenden Gasnetze sowie den Umstieg auf moderne Wärmenetze planen. Während sich der energiepolitische Diskurs noch vor einigen Jahren um die Frage Groß gegen Klein, Kommunal vs. Neue Player und Disruptoren drehte, existiere diese „Oder-Welt“ heute nicht mehr. Wettbewerbsstark seien diejenigen, die schnell und flexibel agierten. Im neuen Marktdesign sei genug Platz für alle, die mit Mut und Leidenschaft die grüne Zukunft gestalten möchten.

Wasserstoff spiele für ihn eine wichtige Rolle in KWK-Anlagen, skeptisch hingegen sei er für dessen Nutzung in Einzelheizungen. Dafür das Gasverteilnetz aufrechtzuerhalten sei nicht zukunftsfähig, zumal der importierte Wasserstoff dringend nötig sei, um den Bedarf der Energiewirtschaft in Dunkelphasen zu decken und die energieintensive Industrie (z. B. in der Chemiebranche) auch weiterhin in Deutschland zu halten.

Eine klare Unterstützungsbotschaft gab Graichen noch an die Stadtwerke: Dass es mit der finanziellen Schieflage von Uniper und Leag im März 2022 nicht zu Verwerfungen kam, lag auch am sofortigen milliardenschweren Engagement der Bundesregierung: „Der Staat wäre ebenso auch für die Stadtwerke da.“

Planungssicherheit in Detailfragen schaffen

Wie auch schon auf dem „Handelsblatt Energie-Gipfel“ im Januar 2022 spürbar (> Zum Bericht), ist die Branche durchaus zufrieden mit der „unglaublichen Produktivität“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz – keine Selbstverständlichkeit angesichts der viel zu langsamen und viel zu zögerlichen Energiepolitik der Vorgängerregierung.

„Mehr sei fast nicht mehr zu verarbeiten“, gesteht Dr. Florian Bieberbach, Vorsitzender der Geschäftsführung der Stadtwerke München. Doch obwohl das Zielbild grundsätzlich klar sei, gäbe es noch einige Detailfragen, die zu diskutieren seien: etwa die konkrete Ausgestaltung der Wärmewende (50 % Erneuerbare bis 2030 machten ihn da schon „schwindlig“), Möglichkeiten zur Erhöhung der energetischen Sanierungsrate, die zukünftige Rolle des Wasserstoffs (als sprichwörtlicher „elephant in the room“) oder die tatsächliche Belastbarkeit der avisierten Ausbaupfade. Werden der angestrebte Windenergie- und PV-Boom wirklich so kommen? Zumindest die Science Community sei hier noch zurückhaltend, zumal es in der Umsetzung schon heute an materiellen Kapazitäten (z. B. Wechselrichtern und Speichern für PV-Anlagen) fehle. Zudem sei eine noch nie da gewesene Qualifizierungsoffensive notwendig, um die Energiewende mit hochmotivierten und engagierten Fachkräften gestalten zu können.

Verbindliche Wärmeplanung und verstärkte Energieeffizienzberatung

Für das Sommerpaket, das mit der begonnenen hohen Schlagzahl im Herbst 2022 das Parlament passieren könnte, kündigte Graichen auch eine Klärung für eine vorausschauende, verbindliche Wärmeplanung an. Die Stadt Wien und Dänemark könnten hier laut Graichen und Wielgoß als Vorbilder gesehen werden. In der Podiumsdiskussion betonte Graichen auch, dass der bestehende Notfallplan Gas nicht von einer dauerhaften Gasmangellage ausging und hier sicher noch im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland Diskussionen nötig sind. Dennoch steht eines fest: Ein geschützter Kunde bleibt ein geschützter Kunde. Bieberbach sieht in einer Mischung aus Appellen, eigener Einsicht und einer verstärkten Energieeffizienzberatung eine geeignete Möglichkeit zum sorgsamen Umgang mit den wertvollen Naturressourcen – all das natürlich flankiert vom beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien.

Auch wenn die diesjährige „Handelsblatt Jahrestagung Stadtwerke 2022“ vom Ukrainekrieg und seinen wirtschaftlichen Folgen überschattet ist: Die wie immer professionell organisierte und hochkarätig besetzte Veranstaltung bietet allen Teilnehmenden (live vor Ort oder digital) eine nicht zu unterschätzende wertvolle Konstante – zum Gedankenaustausch und Netzwerken, als Inspiration, Impulsgeber und Meinungsbilder.