Mit dem Green Deal hat die Europäische Union das Ziel festlegt bis 2050 klimaneutral zu werden. Zahlreiche Unternehmen in Europa haben dieses Ziel bereits in ihre Transformation mit aufgenommen. Doch die hohe Nachfrage nach erneuerbaren Energien sowie die hohen Energiepreise stellen Unternehmen vor große Herausforderungen. Während die Kapazitäten von Wind- und Solarstrom weiter steigen und grüne Moleküle langsam ihren Weg in die stoffliche Verarbeitung finden, stehen wir bei der CO2-freien, industriellen Wärmeversorgung noch am Anfang. Hinzu kommt, dass die Umwandlung von Strom in Wärme mit hohen Energieverlusten einher geht.
Bisher findet die Transformation der Energieproduktion hauptsächlich oberhalb der Erdoberfläche statt: Ob der Ausbau von Windrädern, die Entwicklung von Photovoltaik-Parks oder die Verwendung von Biomasse – es wird deutlich, dass riesige Flächen benötigt werden und genehmigt werden müssen, um unseren Energiebedarf kontinuierlich mit fossilfreien Energieträgern zu decken. Zurecht wurde deshalb der Import von erneuerbaren Energieträgern wie zum Beispiel Wasserstoff und seine Derivate aus sonnen- und windreichen Staaten als strategischer Pfeiler der europäischen als auch der deutschen Strategie verankert.
Resiliente, dauernd verfügbare Energiequelle
Doch auch in Europa und in Deutschland lässt sich grüne Wärme direkt und lokal gewinnen. Denn unterhalb der Erdoberfläche, oft in Tiefen zwischen 2.000 und 4.000 Metern, lässt sich heißes Wasser mit einem attraktiven Temperaturniveau zwischen 80 und 120 °C vorfinden. Die Rede ist von Geothermie als erneuerbare Energiequelle für die Wärmeversorgung von Industrie und Städten. Diese Energiequelle ist besonders resilient, unabhängig von Wetter, ganzjährig sowie langfristig verfügbar. Die geförderte Wärme kann mittels Wasser als Energieträger über Fernwärmeleitungen abgegeben und transportiert werden. Bei sehr hohen Temperaturen kann diese sogar zur Stromproduktion genutzt werden. Das Fraunhofer Institut schätzt das Energiepotenzial von Tiefengeothermie zur Wärmegewinnung in Deutschland bis 2050 für Industrie und Haushalte auf bis zu 300 TWh pro Jahr ein.
Vielfältige Anwendungsbereiche
Neben der Wärmeversorgung verfügt die Geothermie darüber hinaus über ein hohes Potenzial industrielle Prozesse zu dekarbonisieren. Temperaturen von 50 °C reichen aus, um ausgewählte Prozesse in der Lebensmittelindustrie oder Gewächshäuser zuverlässig mit Wärme zu versorgen. Zwischen 50 °C und 100 °C können vielfältige Trocknungsprozesse zum Beispiel in der Papierindustrie oder bei der Holzverarbeitung unterstützt werden. Auch die energieintensive Chemieindustrie sowie Raffinerien können Geothermie als saubere Wärmequelle für das Vorwärmen von Zwischenprodukten nutzen. Durch den zusätzlichen Einsatz von industriellen Hochleistungswärmepumpen können darüber hinaus Temperaturbereiche bis zu 180 °C, jenseits der geförderten Wassertemperatur erreicht werden.
Neue Marktakteure am Start
Die Förderung von Geothermie ist in Europa mit Ausnahme weniger Regionen in Island, in der Türkei und in Italien bisher eine Nischenanwendung. Doch die fortschreitenden technologischen Entwicklungen sowie der Eintritt neuer Marktakteure und Start-ups sorgen für eine dynamische Entwicklung. Insbesondere im Bereich der Wärmegewinnung könnte die Geothermie für international agierende Öl- und Gasunternehmen ein neues und vielversprechendes Marktsegment darstellen. Geothermie weist technisch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Aufsuchung, Entwicklung und Förderung von Rohöl auf. Aus diesem Grund haben sich Unternehmen wie Shell, OMV und die chinesische Sinopec bereits positioniert. Der Eintritt dieser Akteure ist notwendig, um die kapitalintensive Tiefengeothermie technologisch weiterzuentwickeln und damit die notwendigen Energiemengen für die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung für Industrie und Haushalte zur Verfügung stellen zu können.
Peter Hartl ist Experte im Bereich Öl, Gas & Chemie bei der Managementberatung Horváth in München