Erdgasversorgung – auf dem Weg in eine neue Normalität

Das Ende russischer Erdgaslieferungen ist die größte Disruption, die die europäische Gasversorgung je gesehen hat – sie hat globale Auswirkungen, und es gibt keinen „quick fix“ für Europa. Dazu fünf Überlegungen.

  1. Zum Ausgangspunkt: Die aktuellen Gaspreise von mehr als 200 €/MWh entsprechen Ölpreisen von weit über 350 $/bbl. Der Wert des deutschen Gashandelsmarktes beläuft sich bei solchen Preisen auf rund 200 Milliarden Euro pro Jahr, wenn man einen Jahresverbrauch 100 Milliarden Kubikmeter für Deutschland zugrunde legt – verglichen mit rund 20 Milliarden Euro pro Jahr in der „alten Welt“. – Dieses Gaspreisniveau ist volkswirtschaftlich nicht ertragbar, erst recht nicht für einen längeren Zeitraum.
  2. Eine Erholung der Preise setzt die Mobilisierung riesiger neuer Erdgasmengen für Europa voraus. Bei allen Bemühungen, die Konsequenzen der hohen Preise und damit die Symptome abzumildern: mittel- bis langfristig liegt die Lösung in neuen Supply-Mengen. Über 130 Milliarden Kubikmeter Erdgas hatte allein die EU aus russischen Pipelines noch in 2021 importiert, ganz Europa über 160 Milliarden Kubikmeter. Die eilige Schaffung von LNG-Importkapazitäten in Deutschland ist ein wichtiger Schritt auch im europäischen Kontext. Aber er garantiert keine LNG-Mengen im erforderlichen Umfang. Der Grund: auch der globale LNG-Markt verfügt nicht über relevante Überkapazitäten. Mit global rund 520 Milliarden Kubikmeter ist wenig Spielraum für europäische Zusatzmengen. Zwar lässt sich im globalen Wettbewerb um LNG den Wettbewerbern in Asien einiges „wegkaufen“ – eine nachhaltige Lösung mit erträglichen Preisen ist das allerdings nicht. Diese LNG-Versorgungssituation wird sich nach Einschätzung von Experten auch frühestens 2027 spürbar ändern können, und auch das nur, wenn jetzt in großem Umfang investiert wird. Vorlaufzeiten für Erdgasproduktion und -verflüssigung und zusätzliche Schiffskapazitäten stehen im Weg.
  3. Zusätzlich ergeben sich erhebliche Unsicherheiten für Investoren entlang der Wertschöpfungskette, aber auch für Gashändler auf dem Weg zur neuen LNG-getriebenen Normalität für Europa: Für wie lange will Europa vor dem Hintergrund der Klimaschutzbemühungen eigentlich LNG importieren? Und was geschieht mit den russischen Erdgasmengen, die nun nicht mehr verkauft werden? In welchem Umfang werden sie in den kommenden Jahren wieder auf dem Weltmarkt auftauchen? Auf Grund der globalen LNG-Dynamik gilt das übrigens auch, falls russisches Erdgas in relevantem Umfang in anderen Teilen der Welt endet. Beide genannten Aspekte. Die Antworten auf diese Fragen können erhebliche Auswirkungen auf die sog. Supply-Demand-Balance und damit auf die Marktpreise haben: zu viel LNG auf den Weltmärkten. Investoren wollen nicht am falschen Ende dieses Marktpreisrisikos sitzen. Die zyklischen Entwicklungen in den Öl- und Gasmärkten sind nur zu gut bekannt, und die Investoren müssen sich beantworten, ob bzw. inwiefern sie das Marktpreisrisiko übernehmen wollen/können, falls der Markt strukturell über-versorgt ist. Zur Erinnerung: im Juni 2020 lagen die Marktpreise für Erdgas in Deutschland bei unter fünf(!) Euro/MWh. Auf der anderen Seite dieses Risikos stehen die großen Importeure bzw. die europäischen Staaten – letztere als politisch Verantwortliche für die Gasversorgungsstrategie. Lösungen, wie diese Risiken bzw. Unsicherheiten gemanagt werden können, liegen nicht auf der Hand. Für die Importeure mit Langfristverträgen aus Russland stellt sich zusätzlich die Frage, was mit diesen Verträgen geschieht.
  4. Aber ist es allein der globale LNG-Markt, der die neue Normalität bestimmt? Europa ist gut beraten, alle sinnvollen Optionen der heimischen Förderung zur verfolgen. Verglichen mit dem globalen LNG-Markt ist hier nicht nur größere politische Kontrolle möglich. Auch klimapolitisch ist es ratsam: bei LNG wird bis zu 20% des Erdgases benötigt, um es zu verflüssigen, zu transportieren und wieder zu regasifizieren – mit entsprechendem CO2-Fußabdruck.

    a. Aus Norwegen hört man, dass es denkbar sei, in der Barentssee größere Mengen zusätzlicher Erdgasreserven zu mobilisieren – allerdings ist dafür zusätzliche Exportinfrastruktur (Pipelines/LNG) erforderlich und damit langfristiges Commitment aus Europa.

    b. Das Vereinigte Königreich – unter neuer Führung – hat verkündet, nicht nur die Offshore-Gasförderung zu stärken, sondern auch das bestehende Moratorium für die Schiefergasproduktion zu beenden. Alles getrieben von der richtigen Ausgangsüberlegung, mit möglichst hohen Zusatz-mengen Druck von den Gaspreisen zu nehmen.

    c. Auch in Deutschland gilt es, die Potenziale der heimischen Förderung genau anzuschauen. Schiefergasproduktion wäre für Deutschland eine Option. Zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr sind in einigen Jahren denkbar, sicherlich mit Auswirkungen auf die Großhandelspreise. Das ist die technische bzw. wirtschaftliche Betrachtung. Angesichts der emotionalen Vorgeschichte von „Fracking“ in Deutschland wird man sich dem Thema aus Sicht der Regierung vorsichtig nähern müssen. Betrachtet man die für viele Jahre bevorstehende kritischen Situation für die Gasversorgung und die Gaspreise scheint es das Mindeste zu sein, eine hinreichend informierte Entscheidung über die Schiefergasoption zu treffen. Eine so informierte Entscheidung verharrt dann nicht in der Wiederholung der politischen Logik aus dem letzten Jahrzehnt, sondern berücksichtigt neben der Gasversorgungssituation auch die Bewertungen zu Fragen der Umweltverträglichkeit – wie es zuletzt die Expertenkommission Fracking in 2021 in ihrem Abschlussbericht getan hat.

  5. Die Lage ist ernst, sehr ernst. Und Abhilfe ist schwierig, da es keine Ideallösungen gibt. Darin liegt aber auch eine Chance: nämlich in der (weitgehenden) Entpolitisierung der Lösungsfindung, die klare Priorisierung der Ziele und konsequente Verfolgung der zur Verfügung stehenden Optionen. Jede Lösung muss dann daran getestet werden, ob sie im Gesamtkontext der festgeschriebenen Klimaschutzziele stimmig ist. Aber sie muss eben gleichzeitig auch die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Energie im Blick haben. Jetzt umso dringlicher.