Digitale Plattformen in der betrieblichen Altersvorsorge – Was können wir in Deutschland von dem US-amerikanischen bAV-Markt lernen?

Die betriebliche Altersvorsorge (bAV) befindet sich weltweit in einem Paradigmenwechsel: Digitale Plattform-Ökosysteme gewinnen auch hier zunehmend an Bedeutung und verändern die Art und Weise, wie bAV-Produkte und Dienstleistungen vermittelt werden. Digitale Plattformen sind dabei mehr als nur technische Schnittstellen – sie fungieren als Ökosysteme, die Anbieter, Produkte und Dienstleistungen an einem zentralen Ort zusammenführen. Diese Plattformen ermöglichen dabei nicht nur die Abwicklung von Versicherungstransaktionen, sondern auch eine stärkere Interaktion mit Kunden und somit eine Ausweitung des Leistungsangebots. Die Integration von Technologien, wie KI sowie Data Analytics, schafft dabei neue Möglichkeiten zur Personalisierung und Effizienzsteigerung.

Internationale Perspektiven

Die USA sind Vorreiter bei der Nutzung digitaler Plattformen in der betrieblichen Vorsorge. Besonders die 401(k)-Pläne haben sich als dominierende Form etabliert. Diese Plattformen bieten Arbeitnehmern eine zentrale Anlaufstelle zur Verwaltung ihrer Altersvorsorge. Automatische Anmeldungen (auch als automatisches opt-in bezeichnet), attraktive Arbeitgeberzuschüsse, Steuervorteile sowie ein breites Anlageuniversum tragen zur hohen Nutzung bei. Im ersten Quartal 2024 lag die durchschnittliche Gesamtbeitragsrate von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu solchen bAV-Plänen bei 14,2 Prozent des Gehalts. Dabei nutzen runde 60 Prozent der amerikanischen Beschäftigten die betriebliche Altersvorsorge über einen 401(k)-Plan.

Der US-amerikanische Markt unterliegt bei den reinen Verwaltungsplattformen, sog. Retirement Record Keeping Plattformen, aufgrund des hohen Kostendrucks sowie der hohen Investitionsnotwendigkeiten in neue Technologien einer stark ausgeprägten Konsolidierung. Während 2011 die Top 5 Anbieter solcher Plattformen gemäß einer Studie von Accenture noch einen Marktanteil von 46 Prozent hatten, hat sich dieser per 2021 auf bereits 60 Prozent ausgeweitet. Zudem ist mit einer weiteren Konsolidierung und Marktbereinigung zu rechnen. Diese bAV-Plattformanbieter stehen daher vor der Notwendigkeit, ihre eigene strategische Positionierung sehr klar zu definieren. Es haben sich in der Praxis drei grundsätzliche strategische Handlungsoptionen herauskristallisiert. Plattformanbieter, wie Fidelity oder Empower, gehen „all-in“ und versuchen insbesondere durch exogenes und endogenes Wachstum klare Skalenvorteile zu realisieren. Die Alternative ist eine ausgeprägte Spezialisierung, beispielsweise auf kleine und mittelständische Unternehmen oder auf andere Kundensegmente oder Branchen. Die dritte strategische Option liegt weniger in der Spezialisierung, als in der Ausweitung des Leistungsangebots – sowohl innerhalb der Investment- und Versicherungsprodukte, als auch in der Weiterentwicklung zu Ökosystemen mit weiteren Beratungs- und Informationsangeboten. Vestwell ist mit ihrem Produkt- und Leistungsangebot ein gutes Beispiel für diese strategische Ausrichtung.

Ein weiterer, sehr klarer Trend zeichnet sich in einer verstärkten Hyperpersonalisierung in der Ansprache der US-amerikanischen Kunden ab. Hierbei spielt KI und predictive Analytics, beispielsweise in der Abschätzung der Sparneigungen oder roll-over Wahrscheinlichkeiten, also der Überführung eines bAV-Sparplans am Ende der Ansparphase in ein privat weitergeführtes Rentenversicherungsprodukt, eine wichtige Rolle. Augmented reality Ansätze oder virtuelle Assistenten werden ebenfalls verstärkt eingesetzt, um den Arbeitnehmern möglich passgenau und auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestellte Beratungsstrecken und Kundenerlebnisse zu bieten. Darüber hinaus werden den Kunden diese gesamten Beratungs- und Verwaltungsfunktionalitäten auch über Apps bzw. Super-Apps zur Verfügung gestellt – oftmals auch auf Basis einer umfassenden Analyse aller Finanzdaten des Kunden im Sinne eines Open Finance Ansatzes.

Digitale Plattformen sind mehr als nur technische Schnittstellen – sie fungieren als Ökosysteme, die Anbieter, Produkte und Dienstleistungen an einem zentralen Ort zusammenführen.

Patrick DahmenGeschäftsführer, Valytics GmbH

Übertragbarkeit auf den deutschen Markt

Im Gegensatz zum US-amerikanischen Markt ist der Markt von bAV-Plattformen in Deutschland deutlich übersichtlicher und insbesondere durch Xempus geprägt – gerade auch nach dem Erwerb von eVorsorge. Weitere Plattformanbieter, wie das zur Allianz Gruppe gehörende Portal Firmen online oder epension sowie penseo, sind kleiner und verfügen nicht über die Breite im Leistungsspektrum. Wenn man sich die Entwicklung in den USA oder auch im stark bAV dominierten Lebensversicherungsmarkt, wie Frankreich, anschaut, so lassen sich die folgenden Handlungsimplikationen für Deutschland ableiten:

  1. Plattformen müssen die gesamte Wertschöpfungskette in der bAV-Beratung abdecken, u.a. Onboarding von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeitnehmerberatung & Abschluss, Verwaltung und Leistung.
  2. Bereitstellung digitaler Beratungsstrecken für die persönliche, hybride und auch rein digitale Beratung – wo immer möglich mit digitalen Unterstützungsfeatures und ChatBots. Gerade in diesem Bereich werden verstärkt auf Unterhaltung ausgerichtete KI-Lösungen sog. Conversational AI-Lösungen, eingesetzt.
  3. Produktscope: alle Produkte der betrieblichen Vorsorge, insbesondere Altersvorsorge, Krankenversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung sowie Unfallversicherung
  4. Automatisierte Abwicklungsprozesse in Neugeschäft und Bestand
  5. Kommunikation mit allen Stakeholdern über Portale und Apps
  6. Integration der bAV-Plattform in die HR-Verwaltungssysteme auf Basis standardisierter Schnittstellen.
  7. Compliance, u.a. lückenlose Dokumentation aller versicherungsrelevanten Daten und Transaktionen („audit ready“), DSGVO-Konformität
  8. Flexibilität, Skalierbarkeit und Sicherheit für alle Stakeholder, insbesondere um die durch die DORA-Verordnung erhöhten Sicherheits- und Governance Anforderungen auch bei Drittparteien abzusichern.
  9. Einfachheit in der Ansprache und Abwicklung.
  10. Zentrale Datenhaltung und Data Analytics Funktionalitäten für die Weiterentwicklung in daten-getriebene Cross-Selling Kampagnen. Gerade dieser Punkt ist in Deutschland noch relativ schwach ausgeprägt, wenngleich sich hier im Zusammenspiel mit Selbstberatungsstrecken umfangreiche Cross-Selling Ansatzpunkte ergeben.

Fasst man diese Entwicklungen in Handlungsimplikationen für den deutschen Markt zusammen, dann liegt der zentrale Schlüssel in einem massiven Ausbau der Data Analytics Funktionalitäten als Grundvoraussetzung für eine stärkere, passgenauere Ansprache der Arbeitnehmer im relevanten Moment sowohl für Produktlösungen im engeren Sinne der betrieblichen Vorsorge, als auch bei der Beratung zu ergänzenden Finanz- und Versicherungsprodukten. Wichtig dabei ist jedoch, eine konsequente kundenzentrierte Perspektive einzunehmen – eine einfache, intuitive verständliche Ansprache ist hierbei eine Grundvoraussetzung. Vielfach stellt das noch die größte Herausforderung für unsere Branche dar.

Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Betriebliche Altersversorgung und Kapitalanlage“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
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