Digitale Ökosysteme in der Fusionskontrolle – eine neue Klasse von Schadenstheorien?

In Fusionskontrollverfahren zwischen Unternehmen im Digitalbereich stehen häufig vertikale und konglomerate Bedenken im Fokus, u.a. unter dem Schlagwort Ökosysteme. (Daneben stellen sich regelmäßig Fragen potenziellen Wettbewerbs, z.B. bei „killer acquisitons“.) Z.B. hat die Europäische Kommission in Google/Fitbit untersucht, ob Google die Interoperabilität zwischen Android und Smart Watches konkurrierender Anbieter einschränken könnte, oder die Apps solcher Anbieter nicht mehr im Google Play Store listen würde.

Nicht-horizontale Schadenstheorien werfen im digitalen Bereich neue Fragestellungen auf, z.B. inwieweit auf einem Markt generierte Daten Wettbewerbsvorteile auf anderen Märkten verschaffen. Gleichwohl stehen solche Schadenstheorien in der Tradition vertikaler und konglomerater Schadenstheorien, wie sie auch in nicht-digitalen Märkten angewendet werden. Kerngedanke dabei ist, dass konkurrierende Unternehmen kein wettbewerbsfähiges Produkt anbieten können, entweder, weil ihnen essenzielle Inputs oder Kundengruppen vom fusionierten Unternehmen vorenthalten werden (vertikale Schadenstheorien) oder sie Produkte nicht im gleichen Umfang wie das fusionierte Unternehmen bündeln können (konglomerate Schadenstheorien). Damit solche Schadenstheorien plausibel sind, muss konkret benannt werden, auf welchem Markt Konkurrenten vom Wettbewerb ausgeschlossen werden sollen, und welche essenziellen Inputs oder Kundengruppen verwehrt bzw. welche Produkte gebündelt werden sollen. Daneben muss detailliert geprüft werden, ob das fusionierte Unternehmen tatsächlich Fähigkeit und Anreiz zum Ausschluss von Wettbewerbern hat (was u.a. nur dann der Fall ist, wenn das fusionierte Unternehmen hinreichend Marktmacht hat), und ob diese Verhaltensweisen tatsächlich wettbewerbsbeschränkende Folgen hätten.

Eine solche Anwendung steht in Einklang mit den Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse der Europäischen Kommission, wie auch mit den Erkenntnissen wettbewerbsökonomischer Theorie, die explizit dargelegt, wie durch die genannten Abschottungsmechanismen Wettbewerb eingeschränkt werden kann.

Neben diesen traditionellen Schadenstheorien zeichnet sich bei Fusionen digitaler Unternehmen, die Ökosysteme betreiben, eine neue Klasse von Schadenstheorien ab, die grob als „Stärkung digitaler Ökosysteme“ bezeichnet werden können, z.B. im Fusionskontrollverfahren Meta/Kustomer des BKartA.

Meta bietet verschiedene soziale Netzwerke und Messenger-Dienste an (Facebook, Instagram, WhatsApp etc). Bei diesen Angeboten handelt es sich um zweiseitige Märkte: Auf der einen Seite werden diese Dienstleistungen durch Endnutzer zur Kommunikation und Vernetzung genutzt; auf der anderen Seite sind Unternehmen auf den Netzwerken aktiv, unter anderem zu Werbezwecken. Dafür stellt Meta den Unternehmen Programmierschnittstellen bereit, mit denen die Unternehmen z.B. ihre Werbeschaltungen steuern können. Kustomer hingegen ist ein cloud-basierter CRM-Dienstleister. Konkret bietet Kustomer eine Software an, mit der Businessnutzer ihre Kommunikation mit Endkunden kommunikationskanalübergreifend steuern können (einschließlich ihrer Kommunikation auf den Meta-Plattformen).

Neben (durch Zusagen gelöste) vertikale Bedenken, dass konkurrierende CRM-Anbieter nicht mehr Kommunikation über die Meta-Plattformen in ihr Angebot aufnehmen könnten, hat das BKartA Bedenken geäußert, dass „das Zusammenschlussvorhaben eine […] Absicherung, Fortentwicklung oder Stärkung des Ökosystems erwarten lässt“. Im Ergebnis wären „mittelbare wettbewerbliche Auswirkungen des Zusammenschlussvorhabens auf Märkte, auf denen Meta bereits über eine starke Stellung verfügt, durchaus möglich.“

Das BKartA hat zwar eine solche Entwicklung des Ökosystems nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen können (und hat somit kein Hauptprüfverfahren eingeleitet). Gleichwohl ist die aufgeworfene Schadenstheorie hochinteressant, stellt sie doch eine Abweichung der bisherigen (oben dargelegten) Praxis dar. Insbesondere scheint die Schadenstheorie nicht darauf abzustellen, dass konkurrierende Unternehmen auf irgendeine Art am Wettbewerb behindert werden würden, d.h. weder wird ihnen Zugang zu Inputs bzw. Kundengruppen verwehrt, noch wird dargelegt, wie Meta Dienstleistungen bündeln würde, sodass Wettbewerber im Markt nicht mehr bestehen könnten. Kern der Schadenstheorie ist lediglich, dass das fusionierte sein Produktangebot verbessern kann und sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschafft, ohne dazulegen wir eine Bündelungsstrategie Wettbewerber konkret behindert. Aufgrund des fehlenden Abschottungselements steht die Schadenstheorie nicht im Einklang mit den in den Leitlinien dargelegten Mechanismen für konglomerate Schadenstheorien. Dementsprechend ist die Schadenstheorie des BKartA ein Novum, und wurde auch von der Europäischen Kommission und der CMA in der gleichen Sache nicht geprüft.

Obwohl das BKartA in der Anwendungspraxis somit Neuland betreten hat, finden sich ähnliche Überlegungen in verschiedenen Debattenbeiträgen: Crémer et al (2019) erläutern, dass digitale Ökosysteme durch Übernahme komplementärer Dienstleistungen Verbrauchern einen höheren Nutzen bieten, so dass Verbraucher weniger geneigt sind, das Ökosystem zu verlassen. Dadurch gewinnt das Ökosystem als Ganzes einen Vorteil ggü. seinen Wettbewerbern, die nur einen kleineren Produktumfang anbieten können. Der Competition Policy Brief Dezember 2022 der Europäischen Kommission erwähnt die Möglichkeit konglomerater Schadenstheorien, auch wenn keine unmittelbare Verknüpfung zwischen den Märkten besteht und Bündelungsstrategien kompliziert und indirekt sind, so dass sie durch die Leitlinien nicht aufgegriffen werden. Caffarra et al (2023) fordern schließlich explizit, dass konglomerate Schadenstheorien jenseits des oben dargelegten Rahmens möglich sein müssen, und behaupten, dass solche Überlegungen in Fusionsverfahren wie Google/Fitbit, Meta/Giphy, Meta/Within und Microsfot/Activision zumindest „Hintergrundmusik“ waren (auch wenn letztendlich nur konventionellere Schadenstheorien geprüft wurden).

Rechtspolitisch stellt sich die Frage, wie das Aufkommen von Schadenstheorien à la „Stärkung digitaler Ökosysteme“ zu bewerten sind. Aus ökonomischer Sicht ist höchst vage, wie, jenseits der Abschottungstheorien, Unternehmen durch Erweiterung ihres Ökosystems einen Wettbewerbsvorteil in einem Markt in einen anderen Markt „hebeln“ können und wie das zu Verbraucherschaden führen soll. Insbesondere ist unklar (und wird weder durch das BKartA noch durch die genannten Publikationen erläutert), nach welchen Kriterien problematische konglomerate Fusionen mit Beteiligung digitaler Ökosysteme von unproblemtaischen Fällen unterschieden werden können.

In diesem Sinne scheinen neue Schadenstheorien dieser Art nicht zur besseren Kartellrechtspraxis beizutragen. Problematisch sind solche Schadenstheorien, da Verbraucher von umfassenden Ökosystemen erheblich profitieren können (und in Einklang damit konglomerate Fusionen a priori als prokompetitiv angesehen werden). Das Wesen von Ökosystemen ist, dass sie Verbundvorteile realisieren, u.a. auch nachfrageseitige Verbundvorteile. Auch das Übertragen von Wettbewerbsvorteilen von einem Markt auf einen anderen ist grundsätzlich wettbewerbsfördernd, wenn die Fähigkeit anderer Unternehmen auf diesem Markt zu konkurrieren dadurch nicht eingeschränkt wird.

Abschließend ist die in Meta/Kustomer geäußerte Schadenstheorie vor dem Hintergrund von §19a GWB zu bewerten. Beide Instrumente versuchen zu verhindern, dass Unternehmen Marktmacht aus einem Markt in einen anderen Markt übertragen, auch wenn die Voraussetzungen traditioneller Schadenstheorien bzw. klassischer Missbrauchsverfahren nicht gegeben sind. Rechtspolitisch ist aber zu fragen, ob die Anwendung neuer Schadenstheorien auf unter §19a GWB fallende Unternehmen in der Fusionskontrolle überhaupt notwendig ist, wenn eine effektive und leicht umsetzbare ex-post Kontrolle besteht (sollte man diese Schadenstheorien überhaupt als gerechtfertigt erachten). Eine weniger strenge Anwendung entsprechender Schadenstheorien in der Fusionskontrolle könnte dafür sorgen, dass die Realisierung der a priori wahrscheinlichen Effizienzvorteile nicht ausgeschlossen ist, während problematische Verhaltensweisen durch §19a GWB aufgegriffen werden.

Literatur

Bundeskartellamt (2022): Fallbericht Meta/Kustomer, B6-21/22

Caffarra C., Elliott M., Galeotti A. (2023): Ecosystem theories of harm in digital mergers: New insights from network economics, part; VoxEU colum

Crémer J., Montjoye Y.-A., Schweiter H. (2019): Competition policy for the digital era