Digital Health: Wer verliert und wer gewinnt

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022

Warum Krankenhäuser und Praxen ihr Versorgungsmodell dringend hinterfragen müssen

rganisationen tun sich oft schwer, sich an neue Bedürfnisse und Realitäten anzupassen. Wer aber nicht in der Lage ist, sich immer wieder neu zu erfinden – und das bedeutet heute, sich mit Hilfe digitaler Technologien neu aufzustellen – hat schlechte Chancen, die nächsten 20 Jahre zu überleben. Im Jahr 2020 betrug die durchschnittliche Lebensdauer eines Unternehmens im Standard & Poor’s 500 Index ca. 21 Jahre – im Jahr 1965 waren es noch 32 Jahre. Angesichts dieser Entwicklungen ist es erstaunlich, dass Krankenhäuser und Praxen zwar ineffiziente Prozesse kritisieren und sich um ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen, selten aber das Versorgungsmodell an sich hinterfragen.

Digitalisierung ≠ digitale Transformation
Darüber, dass in Zukunft Medizin maßgeblich datengesteuert und digital geprägt sein wird, herrscht weitgehend Einigkeit. Dies bestätigt eine unter klinischen Leiter:innen und anderen Führungskräften in Gesundheitsorganisationen weltweit geführten Umfrage des NEJM Catalyst 2019: Hier gaben 66 Prozent der befragten Expert:innen an, dass Künstliche Intelligenz (KI) die Gesundheitsversorgung schon in den nächsten zwei Jahren klar beeinflussen werde. Zumeist wird bei diesem Thema jedoch nur an bildgebende Diagnostik oder an die Entwicklung neuer Therapien gedacht – das heißt an Innovationen, die in der Vergangenheit kaum eine wirkliche Transformation des klassischen Versorgungsmodells ausgelöst haben.

Und diese Denke zieht sich durch. Zum Beispiel auch auf Patientenseite: Patient:innen können digital Termine oder auch eine Videosprechstunde mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin als zusätzlichen Kommunikationskanal buchen. Sie können E-Rezepte einlösen, Laborresultate in ihrer Gesundheitsapp einsehen oder die Anzahl von Schritten, Blutdruckwerten und andere biometrische Daten mit Arzt oder Ärztin teilen. All das und vieles mehr existiert mancherorts bereits seit Jahren; zum Beispiel im portugiesischen Gesundheitssystem. Ich selbst habe als damalige Direktorin des Nationalen Zentrums für Telehealth an der Digital Health Agency (SPMS) des Gesundheitsministeriums mitgewirkt. Aber hat dies prinzipiell etwas am Versorgungsmodell geändert? Nein!

Dabei ermöglicht KI prinzipiell heute schon die Teilautomatisierung medizinischer Tätigkeiten. Ein Beispiel ist der Einsatz sogenannter (KI-unterstützter) Symptom Checker, mit deren Hilfe Patient:innen in die Lage versetzt werden, ihre Symptome autonom zu managen oder sich in komplexeren Fällen ärztlichen Rat einzuholen.

Demographische Entwicklung kills klassisches Versorgungsmodell
Die Weltbevölkerung altert. Standen in Deutschland 2001 noch vier Menschen im erwerbsfähigen Alter einem Menschen von 65 Jahren und älter gegenüber, waren es 2020 nur noch 2,9 Menschen. Hinzu kommen die steigende Lebenserwartung und damit die steigende Anzahl chronisch kranker Menschen. Das ist teuer. Für die Schweiz weiß man zum Beispiel, dass 80 % der Gesundheitskosten auf chronische Erkrankungen entfallen. Es ist damit klar: Unsere westlichen Gesundheitssysteme und ihr Versorgungsmodell in der heutigen Form sind nicht zukunftsfähig. Es braucht ein konsequentes Umdenken.

Chronische Erkrankungen können tatsächlich verhindert oder ihr Eintritt zumindest deutlich verzögert werden, wenn sie vorausschauend behandelt werden. Sind sie einmal eingetreten, kommen sie selten allein und müssen kontinuierlich und interdisziplinär begleitet werden. Nur so werden optimale Verläufe erzielt.

Unser heutiges Modell funktioniert jedoch vollkommen konträr: Heute ist die Versorgung in erster Linie immer noch reaktiv, krankheitsorientiert und episodisch. Wie vor hundert Jahren. Sie ist fragmentiert und damit kaum patientenzentriert. Hohe Versorger-Patienten-Ratios limitieren darüber hinaus die Skalierbarkeit.

Wollen wir die demographische Entwicklung und die damit einhergehenden enormen Herausforderungen für das Gesundheitssystem nachhaltig managebar machen, brauchen wir einen neuen, das heißt, einen auf Prävention, Individualisierbarkeit, Integration und Kontinuität ausgerichteten Versorgungsansatz. Und zwar einen, der dies für sehr viele Patient:innen parallel sicherstellt. Ein solcher Ansatz kann nur mit intelligenter Technologie ermöglicht werden.

Fachkräfte werden weltweit immer knapper
Dabei sind es nicht nur das veränderte Krankheitsmuster und die ansteigende Anzahl an Patient:innen, die das bisherige Versorgungsmodell in die Knie zwingen werden. Es ist auch der immer größer werdende Mangel an ärztlichem, pflege- und medizintechnischem Personal. Zuwanderung aus dem Ausland ist dabei angesichts des globalen Phänomens der Überalterung auch keine Lösung.

Clayton Christensen von der Harvard Business School schrieb in seinem Buch „The Innovator’s Prescription“: „Das Organisationsparadigma des allgemeinen Krankenhauses entstand im Zeitalter der ‚intuitiven Medizin‘.“ Damit ist eine Zeit gemeint, in der Ärztinnen und Ärzte sich auf ihre Erfahrung verlassen mussten. Heute befinden wir uns aufgrund wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts bereits im Übergang von evidenzbasierter Medizin zur personalisierten Medizin. Das Organisationsparadigma der Versorgung und das daraus resultierende Modell haben sich jedoch seit den Tagen der „intuitiven Medizin“ nicht wesentlich weiterentwickelt. Denn schließlich genügt es nicht, digitale Elemente in bestehende Prozesse einzubauen, um den neuen Herausforderungen gewachsen zu sein. Es braucht eine echte Transformation.

Digital native Gesundheitsversorger sind die wirklichen Transformatoren
Ali Parsa, Gründer und CEO des britischen Start-ups Babylon Health, ist einer von zahlreichen Akteuren, die das erkannt haben. Babylon erschafft Schritt für Schritt ein eigenes Versorgungssystem. Es ist im Wesentlichen digital first, datengesteuert, automatisiert und auf Selbstbedienung seitens der Patient:innen ausgerichtet. Der Patient – oder besser sein Digital Twin – steht im Zentrum des Systems. Ärztinnen und Ärzte konzentrieren sich auf diejenigen Tätigkeiten, bei denen sie heute noch unersetzlich sind. Bereits 2021 konnte das 2013 gegründete Unternehmen an die Börse gehen.

Andere interessante Player sind digital native Gesundheitsdienstleister, die Teil eines offenen Ökosystems sind. Ein gutes Beispiel ist Sword Health. Das portugiesische Telephysiotherapie-Start-up wurde 2015 gegründet. Im November 2021 wurde sein Wert bereits auf zwei Milliarden Dollar geschätzt. Sword ist aktuell der weltweit am schnellsten wachsende Anbieter virtueller Physiotherapie – insbesondere in den USA.

Als ich 2017 die Gründer von Sword kennenlernte, war das Unternehmen ein MedTech-Start-up, das eine digitale Plattform und zugehörige Sensoren anbot. Kundenzielgruppe waren die klassischen Versorger, die damit in die Lage versetzt werden sollten, Physiotherapien geographisch auszuweiten und zu skalieren. Die Technologie konnte zwar in Krankenhäusern erfolgreich getestet werden, zahlen wollten diese dafür aber nicht.

Erst als Sword ihre eigenen Physiotherapeut:innen einstellte und damit selbst zum Versorger wurde, hob das Unternehmen ab. Ihre originäre Technologie, die smarte Datennutzung sowie hochstandardisierte und teilautomatisierte Prozesse machen es unter anderem möglich, dass ein Physiotherapeut simultan bis zu 200 Patient:innen zu Hause betreut. Zu den Kund:innen von Sword zählen nun Versicherungen und Unternehmen. Ähnlich wie Sword entwickelten sich auch andere Start-ups, die als MedTech begannen, zu digitalen Versorgern weiter, weil sie als Technologieanbieter bei Krankenhäusern und Praxen keinen Erfolg hatten.

Warum tun sich so viele Krankenhäuser und Praxen schwer, sich mit Hilfe digitaler Technologien neu aufzustellen, um Versorgung effizienter, patientenzentrierter, auf hohem Qualitätsniveau konsistent, dabei skalierbar und letztendlich auch bezahlbar zu machen? Vielleicht, weil datengesteuerte, standardisierte, teilautomatisierte, Patient:innen ermächtigende Versorgungsmodelle einen wirklichen Bruch mit dem Organisationsparadigma der „intuitiven Medizin“ erfordern. Eben echte Veränderung.

Smarte Optionen für Krankenhäuser und Praxen
Ein möglicher pragmatischer Schritt für Krankenhäuser wäre es, parallel zu ihrem Tagesgeschäft sukzessive neue, autonome digitale Versorgungsangebote im Sinne einer integrierten Patient Journey anzubieten. Das können eigene Services oder die von digitalen Partnern sein.

So gewinnen sie Zeit für die eigene digitale Transformation, gestalten selbstbestimmt ihre Rolle und übernehmen für ihre Patient:innen die wichtige Funktion eines Lotsen.

Praxen wiederum werden eine Art Digital-HealthBroker benötigen, der ihnen über eine Plattform Zugang zu fachspezifischen digitalen Versorgungsangeboten für ihre jeweiligen Patient:innen ermöglicht.

Wer verliert? Wer gewinnt?
Ob Krankenhäuser, Praxen oder digital native Gesundheitsdienstleiter – zu den Gewinnern werden jene zählen, die es schaffen, ihre Dienste und Daten in einem neuen, hybriden Gesundheitsökosystem der Zukunft intelligent aufeinander abzustimmen und zu vernetzen.

 

MedTech-Startups entwickeln sich zu digitalen Versorgern, weil sie als Technologieanbieter bei Krankenhäusern und Praxen keinen Erfolg hatten.

Micaela Seemann MonteiroChief Medical Officer for Digital Transformation, CUF (Portugals größter privater Gesundheitsversorger), und Ärztliche Direktorin, CUF Digital
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