Die digitale Patient Journey: Gesundheit ist das Ziel

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022

Das Ziel des deutschen Gesundheitssystems ist der gesunde Mensch, der kein Patient mehr ist. Eine radikale Idee, könnte man meinen, wenn man die gesundheitspolitischen Debatten der vergangenen Jahre verfolgt, in denen viel vom fehlenden Geld die Rede ist, von Fallpauschalen, Datenschutz, angeblich unüberwindbaren Sektorengrenzen und allgemeiner Überlastung, aber wenig vom Patienten und seinen Bedürfnissen. Bei Vivantes, dem größten kommunalen Krankenhausunternehmen Deutschlands, nehmen wir uns die Freiheit, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Vorstellung von einem ganzheitlichen Behandlungspfad als Reise mit Start und Ziel, mit Weggabelungen und Kreuzungen, mit Begleitern und Beobachtern, hilft uns, unsere Arbeit besser zu verstehen, vernetzt zu denken und zu handeln. Diese „Patient Journey“ ist daher elementarer Bestandteil unserer Strategie „Vivantes 2030“, und sie ist digital. Unsere Vision: Wir wollen Gesundheitsversorgung aus einer Hand bieten – strikt orientiert an den Bedürfnissen unserer Patienten. Das ist nur mittels einer konsequenten Digitalisierung aller Bereiche im Krankenhaus möglich.

Ganzheitliche Digitalisierung dient der Unternehmensstrategie
Wenn wir die Patient Journey ganzheitlich denken – über Sektorengrenzen und Träger hinweg – und den Patienten in den Mittelpunkt stellen, ergeben sich automatisch Schnittstellen zu Institutionen der Gesundheitsprävention und weiteren sozialen Trägern. Die Digitalisierung ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient direkt der Umsetzung unserer Unternehmensstrategie „Vivantes 2030“ mit dem Patienten im Mittelpunkt. Zuallererst müssen wir aber unsere klinischen Prozesse klar definieren und nötigenfalls auch konsequent optimieren und vereinheitlichen. Denn ein schlechter Prozess wird durch seine Digitalisierung nicht besser. Die Digitalstrategie von Vivantes will den Aufenthalt eines Patienten in einer unserer Kliniken schon vor der Aufnahme erfassen. Schon zu Hause wird er künftig seinen Aufenthalt bei Vivantes über unsere Patienten-App planen können. Ein automatisierter Datenaustausch mit dem Rettungsdienst der Feuerwehr wird Papierkrieg in unseren Notaufnahmen ersparen und der Qualitätssicherung dienen. Telemedizinische und telemetrische Diagnostik wie zum Beispiel Videosprechstunden oder Fernabfrage von Vitaldaten werden uns helfen, den Patienten besser kennenzulernen, schon bevor er unser Klinikgelände überhaupt betreten hat. In der Klinik werden Diagnostik- und Therapiealgorithmen greifen, die auf der Anwendung Künstlicher Intelligenz basieren. Wir werden vernetzte, intelligente Medizintechnik nutzen. Diagnostikinstitute wie Radiologie oder Pathologie werden selbstverständlich digital automatisiert sein. (Schon heute dokumentieren und verwalten wir unsere Patientendaten digital.) Nach seiner Entlassung wird der Patient ambulant nachbetreut und der Erfolg der Behandlung standardisiert gemessen werden. Bei Bedarf werden wir wie schon vor dem Klinikaufenthalt erneut telemedizinische und telemetrische Diagnostik nutzen können.

Die Zukunft hat bereits begonnen
Zum Teil ist das noch Zukunftsmusik, aber viele Elemente werden schon im Arbeitsalltag eingesetzt, andere werden gerade erprobt. Eine erste Version unserer Patienten-App wird gerade getestet. Der Datenaustausch mit dem Rettungsdienst läuft gerade an. Die digitale Visite und Patientenkurve hat bereits in allen unseren sieben akutsomatischen Krankenhäusern das Klemmbrett am Krankenbett abgelöst. Dokumentation und Administration unserer Patientendaten sind in unserem Krankenhausinformationssystem digitalisiert und wir haben eine technische Plattform geschaffen, um Patientendaten automatisiert mit der Berliner Charité Universitätsmedizin austauschen zu können. Weitere Berliner Krankenhäuser zeigen Interesse, sich der Plattform anzuschließen. In der ambulanten Nachbetreuung haben wir erfolgreich ein gemeinsames Projekt mit der AOK abgeschlossen, die Cardio-Lotsen. Hier werden Herzpatienten durch besonders geschultes Pflegepersonal in einem ambulant-stationären Netzwerk nachbetreut, was Sterblichkeit und Wiedereinweisungen in die Klinik vermindert. Bei der Errichtung unseres digitalen Krankenhauses gehen wir zweistufig vor. Das Fundament ist bereits gelegt: Die Diagnose- und Behandlungsdokumentation ist ebenso digitalisiert wie Labor und Radiologie. Befunde im Herzkatheter-Labor, der Elektrophysikalischen Untersuchung und im OP werden elektronisch festgehalten. Die sogenannte Patientenkurve mit Medikation, Vitalwerten und ärztlichen Anordnungen wird ebenfalls nicht mehr in Papiertabellen eingetragen, sondern ins Tablet getippt. Auch die Intensivstationen sind voll digitalisiert.

Konsequente Digitalisierung der Patientendaten schafft klinische Mehrwerte
Mit der komplett digitalen Erfassung unserer klinischen Daten schaffen wir das Fundament für weitere Projekte, die einen praktischen klinischen Mehrwert schaffen. Ein Beispiel aus der Praxis: Weil wir die digitale Patientenkurve bereits in allen unseren akutsomatischen Krankenhäusern (ohne Geriatrie und Psychiatrie) eingeführt haben, verfügen wir nun über die Patientendaten in einer Form, die durch Künstliche Intelligenz (KI) verarbeitet werden kann. Das ermöglicht wiederum die Entwicklung eines Systems zur Überwachung und Früherkennung von Wechselwirkungen verschiedener Medikamente. Sind die Patientendaten erst einmal in einem maschinenlesbaren Format vorhanden, können sie – unter strikter Beachtung des Datenschutzes – auch geteilt werden. Für die bereits erwähnte, gemeinsame Datenplattform mit der Charité bereiten wir derzeit weitere praktische Anwendungen vor. So werden wir künftig zum Beispiel schon vor einer Verlegung eines Patienten von der Charité zu uns wissen, ob der Betroffene Träger eines Krankenhauskeims ist, weil die digitale Dokumentation dem Patienten über die Austauschplattform voraus reist.

Künstliche Intelligenz rettet Leben
Die Anwendung von KI testen wir derzeit in Pilotprojekten für Bilderkennung in Pathologie und Radiologie. Algorithmen sollen uns helfen, die Wechselwirkungen von Arzneimitteln besser zu beurteilen und vorherzusagen und frühzeitig vor Komplikationen wie Delir, Sepsis oder akutem Nierenversagen warnen. So testen wir gerade, in welchem Maß KI klinische Entscheidungen von Medizinern und Pflegekräften unterstützen und Routinetätigkeiten automatisieren kann. Denn KI kann Leben retten. Aktuelle Studien zeigen, dass der Einsatz Künstlicher Intelligenz bei der physiologischen Überwachung der Vitalwerte eines Patienten in Europa 42.000 Todesfälle pro Jahr vermeiden könnte. Bei der Bilderkennung (z. B. Pathologie, Radiologie) wären es jährlich 41.000 gerettete Leben. Selbstverständlich hat eine konsequente Digitalisierung auch positive Effekte auf die Arbeitsorganisation einer Klinik. Sie ermöglicht ein effizientes Patientenflussmanagement. Das fängt mit der automatischen Datenübermittlung vom Rettungsdienst an die Klinik an. Ein effizientes Belegungsmanagement kann verhindern, dass Rettungsstellen „überlaufen“ und Patienten zu lange auf die Verlegung auf eine Normalstation warten müssen. „Track & Trace“, eignet sich nicht nur für die Nachverfolgung von Bestellungen im Internet, sondern auch, um den Kreislauf von Patientenbetten zwischen Aufbereitung und Station im Blick zu behalten.

Krankenhauszukunftsgesetz als Digitalisierungsbooster
Als Digitalisierungsbooster nutzen wir das Förderprogramm des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG). Insgesamt 21 Digitalisierungsprojekte von Vivantes werden daraus mit mehr als 60 Millionen Euro gefördert. Das zwingt uns auch, Rechenschaft abzulegen – mit dem Ergebnis, dass wir den Vergleich nicht scheuen müssen. Das „Digitalisierungsradar“ der Bundesregierung, verpflichtend für alle Empfänger von Fördermitteln aus dem KHZG, deckt über 90 % der deutschen Krankenhäuser ab. Vivantes gehört zu den besten 10 % aller deutschen Kliniken, die am Digitalradar teilgenommen haben. Die positive Zwischenbilanz spornt uns weiter an. Aber wir können diesen Weg nicht allein gehen. Deshalb wollen wir unser Wissen teilen und haben das Vivantes Digital Health Playbook veröffentlicht. Dieses Internetportal richtet sich an alle, die von der Bedeutung der digitalen Gesundheit überzeugt sind. Es soll ein Hilfsmittel für Ärzte, Pflegeteams, Mitarbeitende in der Verwaltung und alle anderen sein, die für digitale Gesundheitstechnologien brennen. Diese Kooperationen suchen wir aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn Digital Health kann nicht auf Inseln wachsen, sondern braucht ein großes Netzwerk. Nur, wenn wir die Digitalisierung in die Breite tragen und möglichst viele Kooperationspartner gewinnen, können wir die digitale Patient Journey und damit den Kern unserer Unternehmensstrategie für das vor uns liegende Fotos: Vivantes Jahrzehnt umsetzen. ■

Ein schlechter Prozess wird durch seine Digitalisierung nicht besser.

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