Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022
Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, mit unglaublicher Wucht und Geschwindigkeit. Daten sind die wesentliche Triebkraft dieses Wandels und damit die wichtigste Ressource für unsere Zukunft. Plattformen spielen dabei insbesondere im Gesundheitswesen eine zunehmend wichtige Rolle. Wie wird sich die dazugehörige Plattformökonomie gestalten? Schnell denkt man an die Geschäftsmodelle der bekannten Tech-Giganten, die „big five“. Diese werden zu Recht „Monopolisten des 21. Jahrhunderts“ 1 genannt. Wir leben in einer digitalen Wirtschaft, die nach dem „Winner Takes-all-Prinzip“ funktioniert, und in der ein Trend zur Konzentration sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Technologieebenen besteht. Dieser geopolitische Kampf um Dominanz lässt Bürger:innen wenig Handlungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten in Bezug auf den Umgang mit oder die Kontrolle über ihre Daten. Gleichzeitig wurde im Verlauf der anhaltenden Coronakrise der gesellschaftliche Wert von Daten und deren Nutzbarkeit für viele erfahrbar. In vielen Fällen hat insbesondere die fehlende Datennutzbarkeit die Bedeutung von Gesundheitsdaten in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Europäische Kommission hat im Mai 2020 als Antwort auf diese Großmachtkonflikte das Ziel einer offenen strategischen Autonomie verkündet. Einige Akteure der Wirtschaft setzen strategische Autonomie mit der Schaffung heimischer Tech-Giganten gleich, die mit Shenzhen und dem Silicon Valley konkurrieren können. Das Aufstellen solcher „hauseigenen Unicorns“ wird die grundlegenden Herausforderungen der derzeitigen Internetwirtschaft jedoch nicht lösen. Es würde diese vielmehr verstärken, da mit den gleichen Spielregeln lediglich Kopien mit dem Siegel „made in Germany“ (oder Europe) etabliert würden. Es geht also darum, wie eine Plattformökonomie im Gesundheitswesen aussehen muss, die europäische Werte und die Interessen aller Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Datenökosysteme als Grundlage für Fortschritt – Potenzial und Herausforderungen
Der Ausbau von sogenannten Datenräumen und deren Vernetzung zu Datenökosystemen ist eine der wichtigsten Grundlagen für Fortschritt und Innovation in den kommenden Jahren. Die Schaffung bereichsspezifischer gemeinsamer Datenräume ist wesentlicher Bestandteil der europäischen Datenstrategie, bei der Souveränität und Interoperabilität oberste Priorität haben. Mit der Richtlinie zum „European Health Data Space“ (EHDS) wird aktuell die Basis für einen gemeinsamen, souveränen und interoperablen Gesundheitsdatenraum geschaffen. Zwei weitere Digitalgesetze, das Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act) sowie das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act), sollen zudem die Marktmacht von Internetriesen begrenzen und sie zu gesellschaftlicher Verantwortung verpflichten. Die entstehende digitale Infrastruktur ist dabei mehr als bloße Zukunftstechnologie. Sie ist die wesentliche Weichenstellung für die Gestaltung unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Miteinanders in einer digitalisierten Zukunft. Denn durch Datenökosysteme kann Wissens- und Technologietransfer ebenso wie die Schaffung technologischer, sozialer und letzten Endes wirtschaftlicher Werte auf ein nie gekanntes Level gebracht werden. Der damit einhergehende disruptive Wandel wird enorm sein und alle Bereiche unseres Lebens betreffen. Viele Fragen sind jedoch noch offen, insbesondere im Hinblick auf die nötigen Technologien für den Aufbau und das Betreiben dieser Datenräume. Vor allem aber fehlt einem Großteil der Bevölkerung ebenso wie vielen Akteuren im Gesundheitswesen das Bewusstsein dafür, wie tiefgreifend die bevorstehenden Veränderungen ausfallen werden.
Ohne Datensouveränität kein Vertrauen
Entscheidend ist, dass Nutzer:innen der Datenökonomie und entsprechenden Plattformen vertrauen. Das kann nur gelingen, wenn Datenräume sicher aufgebaut sind und die Menschen jederzeit die Souveränität über ihre Daten behalten. Letzteren Aspekt hebt die Europäische Kommission als maßgeblichen Nutzen eines europäischen Gesundheitsdatenraumes hervor. Auf nationaler Ebene spielt das Thema Datensouveränität in den Debatten über die Gestaltung der Digitalisierung im Gesundheitswesen eine kaum erkennbare Rolle. Damit entsteht ein Vakuum, das die Gesellschaft spalten kann. Darüber hinaus lassen sich wesentliche Diskrepanzen bereits zwischen den verschiedenen nationalen Ebenen, auf denen sich Digitalisierung im Gesundheitswesen abspielt, beobachten. Beginnend bei der auf Landesebene koordinierten Vergabe der Förderungen nach dem KHZG über die kassenspezifischen Produkte, die unter dem Begriff ePA zusammengefasst werden, und die spaltende Gestaltung der Telematikinfrastruktur bis zum Aufbau der Forschungsdateninfrastrukturen der Universitätskliniken im Rahmen der Medizininformatik-Initiative (MII). All diese Ebenen schaffen kaum Synergien, sondern treten mit teilweise konkurrierenden Lösungen an und graben sich im Zweifel gegenseitig das Wasser ab. Daneben stehen Konsortien, die sich den Aufgaben auf europäischer Ebene nähern, allem voran das unter dem Großprojekt Gaia-X laufende Konsortium um HEALTH-X dataLOFT und dessen Schwester-Projekt TEAM-X. Hier soll ein sogenanntes Data-Wallet, das allen Bürger:innen die Verwaltung ihrer Gesundheitsdaten ermöglicht, zentrales Element der Infrastruktur werden. Bis jetzt ist nicht erkennbar, wie die nationale Telematikinfrastruktur oder die ePA an diese Projekte angebunden werden können. Dazu müsste sich die für diese Themen verantwortliche Gematik GmbH in diese Projekte einbringen, was alleine aufgrund ihrer Gesellschafterstruktur schwierig wird. Auf bundesdeutscher Seite hat man sich ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz in den Koalitionsvertrag geschrieben. Dieses steht im Zeichen der erleichterten Datenverwertung und lässt den auf EU-Ebene hoch gehaltenen Wert von Datensouveränitat der Bürger:innen genauso links liegen wie die vernehmbare Diskussion im Zuge des digitalen Strategieprozesses des BMG. Zu hören sind hier Stimmen der etablierten Stakeholder; selbst Kassen machen keinen Halt davor, einzufordern, die Daten ihrer Versicherten auswerten zu dürfen. Von dem fast schon als Datenenteignung zu klassifizierenden Vorgang der per Gesetz angeordneten zentralen Speicherung aller 73 Millionen Versichertendaten (wohlgemerkt ohne Widerspruchsrecht) ganz zu schweigen. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Mentalität den Bestrebungen eines europäischen alternativen Modells einer fairen, demokratischeren, diverseren und inklusiveren Datenökonomie nicht entgegensteht.
Mehr Mut für einen Brückenschlag zwischen Wissenschaft, Technologie und Demokratie
Woran es fehlt, sind echte partizipative Transformations- und Innovationsprozesse. Wie können solche partizipativen Methoden gelingen und einen konstruktiven Beitrag zu einer nachhaltigen Transformation im Sinne eines kulturellen Wandels leisten? Das passive Konzept von politischer Teilhabe über ein Wahlmandat reicht ganz klar nicht aus, um Bürgerbeteiligung und damit Akzeptanz der Lösungen voranzubringen. Dennoch sehen viele Interessensvertretungen nach wie vor die Möglichkeit der Regierung, unter Umständen auch unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, als größte Chance für echte Veränderungen. Dabei ist es allgegenwärtig sichtbar, dass Politiker, auch mit Blick auf die Wiederwahl, diese Entscheidungsgewalt meist nicht nutzen, da sie zu vielen Stakeholdern verpflichtet sind. Der „Bottom-Up“ Ansatz von quasi direkt-demokratischen Verfahren birgt ebenso Risiken, denn selten wird hier tatsächlich ein fairer Interessensausgleich hergestellt. Insbesondere im Gesundheitswesen liegt ein großes Potenzial in Ansätzen, die Verbraucher:innen, Versicherte, Bürger:innen oder Patient:innen an der Gestaltung eines Gesundheitsdaten-Ökosystems partizipieren lassen. Die Wirsamkeit solcher Maßnahmen werden fundamental unterschätzt. Dabei hat sich vielfach gezeigt, dass gesellschaftliche Akzeptanz eine Grundvoraussetzung für eine breit unterstützte Umsetzung transformativer Maßnahmen ist. Indem wir Bürger:innen oder Patient:innen einen Platz am Tisch anbieten, realisieren wir eigentlich erst das, was „Patient-Empowerment“ eigentlich meint. Wir müssen verstehen, umsetzen und erleben, was es bedeutet, Patient:innen in einer digitalen Welt zu befähigen und wie dieses sogenannte „Patient Empowerment“ die Lücke zwischen Wissenschaft, Technologie und Bürgerschaft überbrücken wird. Ob wir es in Zukunft mit souveränen Bürger:innen zu tun haben, wenn wir den Patient:innen von morgen entgegentreten, ob wir eine digitale Zukunft schaffen, die wettbewerbsfördernd ist und ein reales Gegenmodell zum autokratischen Trend der Plattformökonomien bieten wird, hängt wesentlich davon ab, ob die Unternehmen hinter digitalen Gesundheitslösungen und -plattformen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Die Rolle des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie ist nicht zu unterschätzen und Institutionen, die sich auf breiter Ebene mit der Frage der Akzeptanz von ePA & Co auseinandersetzen, haben längst erkannt, dass es mit Kommunikation und UX-Optimierung nicht getan sein wird. An anderen Stellen wird, befeuert durch die enormen Summen an Finanzinvestitionen, darüber diskutiert, wie wir im Wettlauf um den Technologievorsprung den oft als zu langsam und damit störend wahrgenommenen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel umgehen oder erzwingen können, oder gar ganze Geschäftsmodelle ersonnen werden, die das „Problem des Datenschutzes“ umgehen. Was dabei allzu gerne übersehen wird, ist die Tatsache, dass Transformation auf der gesellschaftlichen Ebene stattfindet und Technologie diese allenfalls ermöglicht oder antreibt.
Patient:innen und Verbraucher:innen im Gesundheitsdatenökosystem
In keinem anderen Bereich kommt den Verbraucher:innen eine so wesentliche Rolle zu wie im Gesundheitsdatenraum. Sie sind sowohl die wesentliche Quelle der ausgetauschten Daten (und damit deren Bereitsteller) als auch der wichtigste Empfänger der Endprodukte und Services (in Form von datengestützter Prävention, Diagnose und Behandlung). Sie stehen allerdings nicht mehr nur am Anfang und am Ende der Datennutzungskette. Insbesondere in der digitalen Gesundheitsversorgung werden Bürger:innen zu aktiven Mitgestaltern ihrer Gesundheit, die im Alltag ganz nebenbei über Tracking- oder Monitoring-Devices und Gesundheits-Apps eine neue Kategorie an Daten in riesigen Mengen generieren. Gleichzeitig sind es die Identitäten der Patient:innen, über die verschiedene Datensätze wie Medikationspläne, Tracking-Daten oder diagnostische Bildgebung sinnvoll verknüpft werden können. Es sind erst die Identitäten der Bürger:innen, die ein Gesundheitsdatenökosystem zu einem in sich funktionierendem System machen. Diese Perspektive rückt auch die Debatte um das Thema Datenschutz in ein neues Licht. Neben Vertrauen brauchen wir Zutrauen zu unserer Bürgerschaft. Das Zusammenspiel vom Schutz der Privatsphäre und Datensouveränität macht deutlich, weshalb es hier um den Erhalt gesellschaftlicher Werte geht. Es geht um den Erhalt eines solidarischen Grundverständnisses und das Bekenntnis zu demokratischen Werten, die eindeutig fordern, dass technologischer Fortschritt im Dienst der Gesellschaft stehen muss und nicht andersherum. Denn nicht nur Digitalisierung – sondern auch Fortschritt ist kein Selbstzweck. ■
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1 Hans-Jürgen Jakobs: „Das Monopol im 21. Jahrhundert – Wie private Unternehmen und staatliche Konzerne unseren Wohlstand zerstören“, DVA
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ÜBER UNS
Patients4Digital ist ein gemeinnütziger Transformationstreiber. Wir helfen, Ihre Innovationsprojekte nachhaltiger zu machen, indem wir Ihre technische Innovation in der gesellschaftlichen Transformation vom anbieterzentrierten zum personenzentrierten Markt verankern. Wir holen die richtigen Akteur:innen, insbesondere Bürger:innen, an Bord, denn wir sind überzeugt: Nur so kann die notwendige Vertrauensbasis geschaffen werden, um gemeinschaftlich unsere digitale Zukunft wertorientiert zu gestalten.
Dabei fokussieren wir uns auf folgende Hebel:
- Eine neue Generation von Patient:innen
- Ein gesteigertes Interesse an Nachhaltigkeit und ganzheitlicher Gesundheit auf Seiten engagierter Bürger:innen
- Neue Allianzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie z.B. Bildung und Gesundheit
Wir haben erkannt, dass Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen den Mut braucht, neue Wege zu erforschen. Nur so können wir auch neue Wege gehen. Mit diesem Innovationsgeist machen wir Transformation zu einem gesellschaftlichen Prozess.