Das ungleiche Paar:Zum Verhältnis von Public und Private Enforcement

Private und öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung gehören zur gleichen Familie. Beide dienen der Effektivität der Wettbewerbsregeln und damit lt. EuGH demselben öffentlichen Interesse. Wo Unternehmen damit rechnen müssen, Kartellschadenersatz zu zahlen, werden weniger Kartelle gebildet; dies bestätigt die ökonomische Forschung.

Doch auch in den besten Familien gibt es Eifersucht oder gar Streit. So vermissen die Opfer von Kartellen mitunter die Unterstützung der Behörden, wenn es um Fragen des Aktenzugangs geht; ebenso kritisieren sie die Kürze oder Oberflächlichkeit veröffentlichter Bußgeldentscheidungen – vor allem dann, wenn diese das Ergebnis von Settlement-Verhandlungen sind. Demgegenüber verweisen die öffentlichen Wettbewerbshüter die Geschädigten mitunter darauf, dass behördliche Ermittlungen und Entscheidungen erst die Grundlage schaffen für Follow-on-Klagen; überdies drohe die Zunahme von  Schadensersatzklagen potenzielle Kronzeugen zu verschrecken.

Letztere These entbehrt, wie die European Association of Competition Law Judges bereits vor Jahren festgestellt hat, jeder empirischen Grundlage. Aktuell steigt die Anzahl der Kronzeugenanträge signifikant. Die Kommission verzeichnete 2022 eine Verdopplung der Selbstanzeigen gegenüber dem Vorjahr und eine Verdreifachung gegenüber 2020. Dieser Anstieg kommt zu einer Zeit, in der Gerichte nicht nur in Spanien oder Italien, sondern auch in Deutschland immer öfter Kartellschadensersatz der Höhe nach zusprechen – auf die Urteile des LG Berlin zum Lkw-Kartell, des LG Dortmund zum Schienenkartell oder des LG Mannheim zum Zucker-Kartell werden in den kommenden Jahren weitere folgen; insbesondere
in München und Stuttgart liegen aussagekräftige Sachverständigengutachten zum Lkw-Kartell vor. Wenn Kronzeugenanträge in einer Zeit zunehmen, in der das Private Enforcement bei allen verbleibenden Herausforderungen konkrete Gestalt annimmt, sollten die Auswirkungen der Kartellschadensersatzrichtlinie auf die Bereitschaft zur Selbstanzeige nicht überschätzt werden.

Der Vergleich mit den Vereinigten Staaten zeigt vielmehr, dass die Anzahl der Kronzeugenanträge auch ohne nennenswerte Veränderungen der normativen Grundlagen für das zivile Kartellrecht im Laufe der Jahre Schwankungen unterliegt.

Zwar erscheint die Menge an Kronzeugenanträgen derzeit immer noch überschaubar. Der historische Vergleich, den jüngst die OECD angestellt hat, leidet jedoch am verzerrten Maßstab. Er setzt nämlich an den Jahren an, in denen nicht nur die Automobilzuliefererkartelle weltweit für Rekordzahlen sorgten. In den Jahren davor, welche die OECD nicht betrachtet hat, waren Kronzeugenanträge weitaus seltener (näher Funke, The Leniency Comeback, Competition Law Insight, 10.03.2023, https://fmos.link/20290).

Das Comeback der Kronzeugenanträge korreliert damit, dass mit dem Ende der Covid-Pandemie und der Stärkung behördlicher Befugnisse ein erhöhtes Entdeckungsrisiko für Kartellanten besteht. Auch zeigen die Wettbewerbshüter derzeit, dass ihr Interesse nicht allein den Technologieplattformen gilt. Beides bietet potenziellen Kronzeugen neue Motivation. Mithin ist für die Bereitschaft, einen Kronzeugenantrag zu stellen, vor allem die Effektivität der Kartellrechtsdurchsetzung maßgeblich.

Die öffentliche und private Durchsetzung der Wettbewerbsregeln zeigt ebenso Wirkung wie die Compliance-Anstrengungen der Wirtschaft, zumindest in Teilen. Jede andere Betrachtung erschiene fatalistisch. Sollten alle bisherigen Mühen vergeblich gewesen sein, so wären nicht verbesserte Anreize für Kronzeugen zu diskutieren, sondern ein verschärfter Sanktionsrahmen – die Schilderungen zu den Verhältnissen in amerikanischen Strafanstalten finden in Compliance-Schulungen oft die größte Aufmerksamkeit.

Jede Einschränkung der Möglichkeit Geschädigter, ihre Schäden effektiv ersetzt zu erhalten, wäre am Primärrecht der Union zu messen. Eine Ausnahme des Kronzeugen von der Außenhaftung gegenüber den Kartellgeschädigten wäre unvereinbar mit der Feststellung des EuGH in Skanska, nach der die Teilnehmer des Wettbewerbsverstoßes für dessen Folgen zum Ausgleich verpflichtet sind. Auch der Kronzeuge gehört zu diesen Teilnehmern und kann daher nicht gänzlich ausgenommen werden – nicht durch Sekundärrecht der Union, und erst recht nicht durch mitgliedstaatliche Normen. Daher ist zu begrüßen, dass die entsprechenden Vorschläge der Monopolkommission keinen Eingang in die 11. GWB-Novelle gefunden haben. Die Weiterentwicklung des Kronzeugenschutzes ist jedoch möglich, ohne dem Recht auf Schadensersatz oder dem Effektivitätsgrundsatz entgegenzustehen. Eine über das aktuelle Maß hinausgehende Privilegierung könnte am Binnenregress der Kartellanten untereinander anknüpfen: Wer sich im behördlichen Verfahren eine Freistellung oder Reduktion von Bußgeldern verdient hat, könnte nach Kersting (ZWeR 2008, 252, 266; JZ 2013, 737, 739) auch im Ausgleich der Kartelltäter untereinander Vorteile erhalten.

Ebenso könnten die Behörden den Opferausgleich stärken, indem sie – wie einst das Bundeskartellamt im Nachtspeicherheizungsverfahren (https://fmos.link/20291) – die Wettbewerbsverletzer unmittelbar dazu bringen, ihren Kunden eine Kompensation zukommen zu lassen. Ebenso könnten Bußgelder primär zur Wiedergutmachung eingesetzt werden, statt sang- und klanglos in der Staatskasse zu verschwinden. Zwischen Kartellbehörden und Kartellgeschädigten besteht keine notwendige Konkurrenz. Die Weiterentwicklung des Wettbewerbsrechts kann beides fördern – und damit den Familienfrieden im Kreis der öffentlichen und privaten Wettbewerbshüter.

Redaktioneller Hinweis:
Siehe zu diesem Thema auch den ausführlichen Aufsatz von Wouter Wils in diesem Heft, WUW1441870.
www.wuw-online.de