Braucht Agilitätein neues Organigramm?

Agilität wird in Zeiten zunehmender Digitalisierung und sich stetig ändernder Rahmenbedingungen immer wichtiger für Unternehmen jeder Branche. Die Welt verändert sich mit wachsender Geschwindigkeit, und was die Zukunft bringen wird, lässt sich schwer vorhersehen. Hinzu kommt die steigende Komplexität, die in den vorherrschenden Unternehmensstrukturen kaum noch abgebildet werden kann. In dieser VUCA-Welt – VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity – gewinnt die Veränderungsfähigkeit von Organisationen eine zentrale Bedeutung. Denn Veränderungsfähigkeit ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, um sich erfolgreich an den Markt anzupassen und die Geschwindigkeit und Innovationskraft zu erhalten, die zur langfristigen Stärkung der Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit notwendig ist.

Agilität bedeutet Kulturwandel
Die agile Transformation ermöglicht Unternehmen, veränderungsfähig zu werden und zu bleiben. Im Kern geht es um das Bewusstsein der stetigen Weiterentwicklung der Organisation. Die Gothaer hat bereits vor einigen Jahren damit begonnen, agile Organisationsformen rund um Themen wie Produkt- und Anwendungsentwicklung auszuprobieren. Ziel der agilen Transformation der Gothaer ist insbesondere, vorhandene Strukturen zu verändern, um in wirkungsstarken Teams erfolgreicher zusammen zu arbeiten. Dafür gilt es, Silos aufzubrechen und gemeinsam das Mindset von Führungskräften und Mitarbeitenden weiterzuentwickeln. Lag der Business Fokus bisher auf „Funktionale Effizienz und Prozessoptimierung“, liegt er künftig auf „Effiziente End-to-End Verantwortung“. Eine Basis für die erfolgreiche agile Arbeit ist die cross-funktionale Zusammensetzung von Teams. Wenn es beispielsweise darum geht, Produkte oder Anwendungen zu entwickeln, hat es enorme Vorteile, die richtigen Menschen mit den richtigen Fähigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen. Denn durch cross-funktionale Lösungsteams können wir schneller auf Neuerungen reagieren und rasch durchdachte Lösungen schaffen. In klassischen Linienorganisationen geht dagegen häufig viel Zeit damit verloren, Ressourcen und Zuständigkeiten zu klären. Außerdem verschenken wir hier oft die Chance auf kreativere Lösungen. Denn sie entstehen gerade durch die Diversität, durch verschiedene Fähigkeiten und Sichtweisen, gebündelt in einem Team. In unseren Geschäftsfeldern arbeiten deshalb Menschen mit unterschiedlichen Expertisen und Perspektiven zusammen. In der Gothaer nennen wir diese cross-funktionalen Zusammenschlüsse Wertströme. Die rein organisatorische Maßnahme, die richtigen Menschen zusammenzubringen, ist aber nur ein Teil der Veränderung. Für uns geht auch darum, die Zusammenarbeit neu aufzustellen. In den Wertströmen haben die Teams die Möglichkeit, viel stärker als in der klassischen Organisation selbstorganisiert zu arbeiten. Dadurch können die Teammitglieder ihre Fähigkeiten und ihre Stärken besser einbringen. Außerdem sind sie bei jedem Entwicklungsschritt im Wertstrom involviert. Das bewirkt auch einen Wandel in den Köpfen. Es entsteht ein umfassendes Verantwortungsgefühl, bei jedem einzelnen, in den Teams und dem gesamten Wertstrom. In klassischen Hierarchien reicht die Verantwortung oft nur bis zum Übergabepunkt an den nächsten Bearbeiter beziehungsweise Bereich: Bis hierhin ist es meine Verantwortung, ab da deine. Dies kann für den einzelnen den Blick auf das große Ganze verstellen, sei es auf ein Produkt, ein System oder eine Anwendung. Wenn dagegen alle die Verantwortung Ende-zu-Ende gemeinsam übernehmen, weiten sich die Perspektiven und der Fokus liegt auf dem Ermöglichen des angestrebten Ziels, die besten Lösungen für die Kunden zu schaffen.

Evolution anstatt Revolution
Aber reicht es aus, agil zusammenzuarbeiten, ohne den großen organisatorischen Rahmen zu ändern? Oder um es auf den Punkt zu bringen: Braucht Agilität ein neues Organigramm, um das volle Potenzial auszuschöpfen? Diese Frage, mit der wir uns seit geraumer Zeit beschäftigen, können wir mit einem klaren „Ja“ beantworten. Denn agil zu arbeiten und gleichzeitig alte Strukturen beizubehalten, ist nur der halbe Schritt zur Agilität. Herausforderungen wie beispielsweise agile Ressourcenzuteilungen können damit nur teilweise gelöst werden. Wenn Mitarbeitende und Führungskräfte in ihren bisherigen Strukturen verhaftet bleiben, kann dies das Zugehörigkeits- und Verantwortungsgefühl für das „neue“ Team untergraben. Im Ergebnis bleibt der Push- Effekt zur wirklichen Veränderung aus, wenn alte Strukturen parallel beibehalten werden.

Führung im Team
Cross-funktionale Teams und Wertströme brauchen in Zukunft vielmehr eine neue, gemeinsame Heimat mit einer modularisierten und geteilten Führung durch ein Leader-Team. Damit können wir die Wertstrom-Mitarbeitenden in aufbauorganisatorischen Einheiten verankern und ihnen ausreichend Flexibilität in ihren Teams ermöglichen. Zudem bietet die geteilte Führung mehr Menschen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, auch abseits einer klassisch hierarchisch-disziplinarischen Verantwortung. Die modularisierte und geteilte Führung ist in unserem Zielbild in festgelegte, thematische Verantwortungsbausteine aufgeteilt. Neben der Wertstromleitung umfasst das Führungsteam insgesamt drei Wertstrom- Leads. Der Product (Tech)Lead verantwortet die fachlichen Themen. Der Cooperation & Performance Lead übernimmt die methodische Führung und die kennzahlenbasierte Steuerung der Zielerreichung. Komplettiert wird das Leadershipteam mit dem People Lead, der die Budget- und Personalthemen verantwortet und für die disziplinarische Führung zuständig ist. Gemeinsam begleitet das Führungsteam die Mitarbeitenden in den Lösungsteams methodisch und inhaltlich bei der Wertschöpfung für das Unternehmen. Der Zuschnitt der Lösungsteams ist je Wertstrom individuell und kann sich bei Bedarf ändern. Die Teams sind zwar fest in den Wertströmen verankert, bleiben aber nach wie vor virtuell. So können sie je nach Schwerpunkt und persönlichen Fähigkeiten neu zusammengesetzt werden. Das gibt uns den nötigen Spielraum, in Bezug auf die heutigen, aber auch die zukünftigen Rahmenbedingungen flexibel zu agieren. ■

Es gilt, Silos aufzubrechen und gemeinsam das Mindset von Führungskräften und Mitarbeitenden
weiterzuentwickeln.

Maike Gruhn
Maike Gruhn CTO, Gothaer Konzern

Lag der Business Fokus bisher auf „Funktionale Effizienz und Prozessoptimierung“, liegt er künftig auf „Effiziente End-to-End Verantwortung“.

Maike Gruhn
Maike Gruhn CTO, Gothaer Konzern

Titelbild: Getty

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