Blick zurück nach vorn – Betriebliche Altersversorgung bei Bertelsmann in Vergangenheit und Zukunft

Betriebliche Altersversorgung ist ein fluides Konstrukt. Form und Gestaltung sind und waren immer dem Einfluss sich wandelnder ökonomischer und sozio-kultureller Rahmenbedingungen unterworfen. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden die Metamorphose der betrieblichen Altersversorgung des Medien-, Dienstleistungs- und Bildungsunternehmens Bertelsmann chronologisch nachgezeichnet.

Bertelsmann: Das Unternehmen und seine Bereiche

Heute ist Bertelsmann ein Medien-, Dienstleistungs- und Bildungsunternehmen mit rund 75.000 Mitarbeitenden, das in gut 50 Ländern der Welt aktiv ist. Das Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2024 einen Umsatz von 19 Mrd. Euro.

Betriebliche Altersversorgung als evolutionärer Prozess

Bertelsmann als Unternehmen und damit soziale Organisation unterlag in jeder Phase seiner Geschichte Veränderungsprozessen. Nur durch permanente Antizipation von und Adaption an aktuelle Entwicklungen ist es möglich, die Erfolgs- und Wachstumsgeschichte fortzuschreiben. „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein“ (Philip Rosenthal). Dies gilt auch für unternehmensinterne Führungsstrukturen und -instrumente, zu denen mit herausragender Bedeutung die betriebliche Altersversorgung gehört.

Betriebliche Altersversorgung ist ein fluides Konstrukt.

Dr. Hartmut KleinSVP Chief Compensation Officer em., Bertelsmann SE & Co.KGaA

Ein Blick …
… ganz weit zurück: 1887

Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut“ – Johann Wolfgang von Goethe

Im Kern ist die Frage der Altersversorgung so alt wie die Geschichte der Menschheit. So findet sich bereits in der alttestamentarischen Überlieferung in Levitikus 19,9 das apodiktische Gebot, dass ein Teil der Ernte für arme und bedürftige Menschen liegengelassen werden soll – eine der moraltheologischen Grundlagen des im 19. Jahrhundert einsetzenden sozialen Engagements des protestantisch geprägten paternalistischen bzw. patriarchalischen Unternehmertums.

Dies trifft idealtypisch auf den Drucker und Buchbinder Carl Bertelsmann zu, der 1835 den C. Bertelsmann Verlag gründet, die Keimzelle des heutigen Bertelsmann-Konzerns. Mit seinem Verlagsprogramm unterstützt Carl Bertelsmann die religiöse „Erweckungsbewegung“ der evangelischen Gemeinden in der Region. Christliche Nächstenliebe und Hilfe für die Armen und Kranken sind zentrale Motive dieser Bewegung. 1887 wurde vor diesem Hintergrund die Invaliden- und Altersversorgungskasse eingeführt – zwei Jahre vor den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.

Die Bertelsmann Invaliden- und Altersversorgungskasse von 1887 ist ein dienstzeitabhängiges Festpensionsmodell. Die Inanspruchnahme der Versorgungsleistungen ist mit Alter 60 möglich und beträgt bis zu 40 Prozent des Wochengehalts. Die Regelungen sind im Vergleich zu dem „Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ vom 22. Juni 1889 äußerst großzügig. Die Sozialgesetzgebung, auch Bismarcksche Sozialgesetzgebung genannt, sieht eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr sowie eine Invalidenrente bei Erwerbsunfähigkeit vor. Voraussetzung für die Altersrente sind mindestens 30 Jahre Beitragszahlung (mit der damals üblichen 60-Stunden-Woche).

Ein Blick …
… sehr, sehr weit zurück: 1955

„Wohlstand für alle“ – Ludwig Erhard

Die Erfolgsgeschichte des heutigen Bertelsmann-Konzerns beginnt mit dem Wiederaufbau und dem „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre. Insbesondere die Gründung einer Buchgemeinschaft wird Grundlage des Erfolgs, 1954 erreicht der Lesering eine Million Mitglieder. Bertelsmann folgt damit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In den beiden Dekaden von 1950 bis 1960 bzw. 1961 bis 1970 beträgt das durchschnittliche Wirtschaftswachstum 8,2 Prozent bzw. 4,4 Prozent – trotz der ersten Nachkriegsrezession im Jahr 1967.

Die Expansion des Unternehmens stellt aber vor allem deren Finanzierung vor Herausforderungen. Zur Finanzierung eines stetigen Wachstums bei relativer Kapitalknappheit wird auf die „Finanzierung aus Rückstellungen“ zurückgegriffen. Diese Finanzierungsform hat allerdings auch Nachteile, respektive birgt Liquiditätsrisiken: Es muss sichergestellt sein, dass die Cash-Abflüsse (z.B. die Rentenzahlungen) jederzeit gewährleistet sind. In den zwei Jahrzehnten stetigen Wachstums in den 1950er- und 1960er-Jahren spielt dies aber keine größere Rolle. Pensionsverpflichtungen werden aufgebaut, nennenswerte Cash-Abflüsse für Pensionszahlungen sind aber (noch) nicht zu verzeichnen. Diese Überlegungen finden sich implizit, in Form einer sehr großzügigen Dotierung des Pensionsplans und entsprechend hohen Rückstellungsvolumina wieder.

Ein Blick …
… sehr weit zurück: 1986

„Bleibt alles anders“ – Herbert Grönemeyer

Die 60er und 70er-Jahre sind nicht nur eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, sondern auch der gesamtwirtschaftlichen Diskontinuitäten. In beiden Dekaden gab es Rezessionsjahre und der Fortschrittsoptimismus der Wirtschaftswunderjahre weicht zunehmend einer Grundskepsis gegenüber der zukünftigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Diese Gemengelage aus Inflationserfahrungen und Relativierung der Wachstumserwartungen führt zu einer ambivalenten Neustrukturierung der Altersversorgung im Jahr 1986. Aus Unternehmenssicht rückt die materielle Belastung der bAV stärker in den Fokus, während aus der Sicht der bAV-Berechtigten die inflationäre Auszehrung der Werthaltigkeit der Festpensionszusagen kritisch gesehen wird. Mit der Einführung des neuen Pensionsvertrags PVII zum 1. Juli 1986 wird versucht, beide Positionen zu berücksichtigen: Die bisherige Festpensionszusage wird durch eine endgehaltsabhängige Zusage ersetzt, gleichzeitig aber auch die potenzielle Gesamtwertigkeit reduziert.

Ein Blick …
… weit zurück: 1999

„Faber est suae quisque fortunae (Jeder sei seines Glückes Schmied)“ – Appius Claudius Caecus ca. 300 BC

Die späten 1980er- und die 1990er-Jahre sind geprägt durch eine zunehmende Sensibilisierung für Fragen der demografischen Entwicklung und – nicht nur, aber in hohem Maße – die damit verbundenen Effekte für die (gesetzliche) Rente. Die Altersvorsorge entwickelt sich zur Sorge vor dem Alter (Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger).

Die öffentliche Diskussion über Rentenniveaus und Rentenfinanzierung führt zu einer zunehmenden Betonung der Bedeutung der Eigenvorsorge als Beitrag zur Absicherung des Ruhestands. Die Eckpunkte des am 30. Juni 1999 eingeführten Pensionsvertrages III (PVIII) greifen diese Punkte auf. Es wird ein „Baustein-Modell“ eingeführt. Anders als bei den früheren Pensionsverträgen wird die Eigenleistung der Mitarbeiter in Form einer Entgeltumwandlung oder Riesterrente berücksichtigt, indem die Firma diesen Eigenbeitrag des Mitarbeiters durch die Gewährung eines ergänzenden Rentenbausteins honoriert.

Ein Blick …
… zurück: 2012

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“ – Udo Jürgens

Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist geprägt durch eine bis dahin noch nicht gesehene Erschütterung der Finanzwelt durch die Lehmann-Krise und die beginnende Niedrigzinsphase, die sich ab Mitte der 2010er-Jahre zu einem Negativ-Zinsumfeld entwickelt. Gleichzeitig steigt im Zuge der anhaltenden Diskussionen zum demografischen Wandel die Sensibilität für biometrische Risiken. Dies führt 2012 zu einer erneuten Änderung der betrieblichen Altersversorgung.

Mit dem Pensionsvertrag IV (PV IV) werden ab dem 1. Januar 2012 die Rentenbausteine durch Kapitalbausteine ersetzt, die nicht mehr mit einem festen Zins, sondern variabel ermittelt werden. Die Struktur als Baustein-Modell mit Eigenvorsorge wurde beibehalten, die Auszahlung auf das gesetzliche Regelrenteneintrittsalter von 67 Jahren angehoben.

Blick nach vorn …
…. Status quo und Ausblick

Nach vorne blickend lautet die Kernfrage der Altersversorgung: Werden unserer Regelungen den morgigen Ansprüchen noch gerecht? Ist eine betriebliche Altersversorgung wirklich notwendig? Gibt es bessere Wege der Mitarbeitermotivation und Bindung? Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so groß wie eindeutig.

  • Die Erwerbsbiografien werden disruptiver, interne Wechsel nehmen zu, Portabilitätslösungen müssen gefunden werden.
  • Kurze Dienstzeiten führen zu unattraktiven Anwartschaften insbesondere bei PV III und IV.
  • Geschäftsstrategische Konzeptionen der Konzernstrukturen werden volatiler. Betriebliche Altersversorgung darf kein restriktiver Faktor eines effektiven Portfoliomanagements sein.
  • Heterogenen Konzernstrukturen mit unterschiedlicher wirtschaftlicher Tragfähigkeit in einzelnen Divisionen erlauben keine einheitliche Lösung.

Für all diese Fragen und Probleme gibt es keine einfache, eindeutige Lösung. Aber die Diskussion der Themen, das Abwägen alternativer Lösungsansätze und das Denken in Kreativität und Unternehmertum gibt uns die große Chance, ein neues, zukunftsfähiges Modell zu konzipieren. Denn für die Strategie von Bertelsmann gilt: Morgen ist schon heute – Neue Herausforderungen erfordern neue Antworten. Und anders als in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ ist hier der Vorhang auf (und nicht zu 😉 ) und trotzdem alle Fragen offen.

Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Betriebliche Altersversorgung und Kapitalanlage“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
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