Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2022
Es bedurfte keiner weltweiten Pandemie, um aufzuzeigen, dass das deutsche Gesundheitswesen dringend reformbedürftig ist. Seit Jahren schwelender Fachpersonalmangel, stockende Digitalisierung – die nicht zuletzt an der lückenhaften Internetabdeckung scheitert – und das Festhalten an alten Zöpfen in der Vergütungs- und Sektorenstruktur waren Wegbegleiter, bis Corona als Brennglas für diese Unzulänglichkeiten kam. Spätestens dann war allerdings klar: Neue, visionäre Behandlungsansätze müssen her. Nur welche und wie kann deren Umsetzung erfolgen?
Der Nächste bitte
Zunächst sollten wir mit einem „Grundgesetz“ im bisherigen Behandlungsansatz brechen: Dem Erfordernis der physischen Anwesenheit eines Arztes während der Patientenversorgung. Trotz zahlreicher Förderprogramme und ausufernder Antrittsprämien für Fachärztinnen und -ärzte in Stadt und Land, Klinik oder Praxis hat sich der erhoffte Nachwuchs nicht eingestellt und wird dies auch nicht. Stationäre Planstellen und ambulante KV-Sitze bleiben unbesetzt, die Anzahl unbesetzter Sitze in der Tiefe der Bundesländer nimmt rasant zu, Menschen bleiben ohne Versorgung. Zeit also für einen Paradigmenwechsel.
Die Vision des digitalen Arztes, der per Telemedizin oder Videosprechstunde Kontakt zum Patienten aufnehmen kann, könnte schon bald flächendeckende Wirklichkeit werden. Doch das deutsche Gesundheitswesen sträubt sich und beharrt auf einer überholten Regulatorik. Wenn ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte nur 30 Prozent ihrer Konsultationen per Videosprechstunde durchführen dürfen, fehlen Anreize, dies als belastbare Alternative zum physischen Arztbesuch zu sehen und anzubieten. Dass Teile der Bundesrepublik allein durch die (Nicht-)Erreichbarkeit für netzbasierte Dienste ausscheiden, ist eine weitere Hürde in der Etablierung moderner und digitaler Behandlungspfade.
Und sogar die Videosprechstunde ist mit stark reglementierten Ausnahmen höchst bürokratisch an den Ort der Leistungserbringung – sprich Praxis oder Klinik – gebunden. Der erbringende Telearzt muss also in weiten Teilen Telemedizin aus seiner Praxis heraus erbringen, wenn er sie denn regelhaft erbringen möchte. Einen belastbaren Grund, warum sich die Kompetenz von Ärztinnen und Ärzten zwischen Praxis und Home Office unterscheidet, gibt es aus meiner Sicht nicht – außer der Angst der KVen, das System könnte sich ohne ihr Zutun modernisieren und mobilisieren. Mit der Behandlungsqualität für die Patient:innen hat das jedenfalls alles nichts zu tun. Zu einem visionären Behandlungspfad und Ansatz gehört grundlegend auch das Verständnis, dass der „Telearzt“ ortsunabhängig arbeiten kann.
Vernetzt und digital vs. Sektordenken und Fax
Die Sektorengrenze. Schier unüberwindbar trennt sie beharrlich das, was im Sinne einer optimalen Patient Journey eigentlich eng zusammengehören und -arbeiten müsste. Die Vision von „digital vor ambulant vor stationär“ nimmt nur langsam Fahrt auf, da antiquierte Vergütungsmodelle Fehlanreize für Behandlungen setzen bzw. Leistung dort nicht adäquat vergüten, wo sie im Sinne der Patient:innen sinnvoll wären. Hier bedarf es mutiger Vorreiter, die diese Grenze überwinden und das in der Praxis bereit sind, zu zeigen.
Doch Digitalisierung hat in Deutschland – speziell im Gesundheitswesen – ein echtes Imageproblem – es will nicht verstanden werden, dass Digitalisierung und frühzeitige Investition darin viele Probleme der Zukunft vermeiden. Dafür braucht es im Gesundheitswesen deutlich mehr Digitalisierungsenthusiasten. Mehr als 60 Prozent der Kommunikation zwischen Gesundheitsdienstleistern in Deutschland findet per Fax oder Brief statt. Das e-Rezept scheitert noch immer am erforderlichen Papierausdruck. Ist hier statt Trendsetting eher Change-Management für die Anwender angezeigt?
Die Sektorengrenze kann langfristig nur durch Digitalisierung und Vernetzung der Leistungserbringer überwunden werden und scheitert doch an der Akzeptanz, Infrastruktur und nicht zuletzt am Datenschutz.
Statt des selbstbestimmten Patienten, der seine Daten bereitwillig im Sinne eines optimalen Behandlungspfades freigeben würde, wird Datenschutz aus Organisationssicht betrachtet und sich zumeist gegen wesentliche Veränderungen im Datentransfer entschieden
Gesundheit statt Krankheit
Der Blick über den Tellerrand in die europäische Nachbarschaft zeigt, dass visionäre Behandlungspfade auch aus Gesundheit und Prävention statt aus Erkrankung und Intervention bestehen können. Durch Capitation (pauschale Pro-Kopf-Vergütung) wird der Erhalt von Gesundheit durch weniger kostenintensive Vorsorge in den Vordergrund gestellt – ganz im Gegensatz zum deutschen Gesundheitswesen, wo stationäre Interventionen sich für Leistungserbringer am meisten rentieren. Capitation könnte auch in der Bundesrepublik zu einer Entlastung der Kostenträger und einem Fokus auf Prävention führen. Dauerhaft gesunde oder weniger schwer erkrankte Menschen belasten das Solidarsystem der Gesundheitsfinanzierung deutlich weniger.
Zusätzlich könnte die intensivere Nutzung von Wearables und big data dafür sorgen, dass Gesundheitsfürsorge sich zu einem lebenslangen Begleitprozess entwickelt. Statt der punktuellen Versorgung im Krankheitsfall würde die Unterstützung in gesunder Lebensführung, Vorsorge und Früherkennung bestehen. Aus Patient:innen werden Kund:innen.
Es geht visionär, schon heute!
Dass visionäre Behandlungspfade schon heute umsetzund belastbar sind, zeigt das Helios-Projekt „CUBE“. Miteinander vernetzte digitale und physische Angebote ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Ob per Symptom-Check in der Curalie-App oder per Videosprechstunde über das digital hospital – Menschen erhalten bei Bedarf kompetente medizinische Unterstützung, überall und zu jeder Zeit.
Ist eine weiterführende Untersuchung, beispielsweise ein EKG oder ein Ultraschall notwendig, so kann direkt per App oder in der Videosprechstunde ein Termin in einem physischen CUBE in der Nähe vereinbart werden. Dort unterstützt eine medizinische Fachkraft bei der Durchführung der Diagnostik und, sofern notwendig, kann im CUBE noch während der Untersuchung einen Arzt oder eine Ärztin telemedizinisch hinzugezogen werden.
Resultierende Medikation wird als Einmaldosis mitgegeben und ein Rezept ausgestellt. Sollte eine weitere Intervention angezeigt sein, besteht die Möglichkeit, innerhalb des deutschlandweiten Helios-Netzwerks aus über 250 Arztpraxen und knapp 90 Kliniken eine Weiterbehandlung anzustoßen. Die Patient Journey kann also schon heute mit Leben befüllt werden und ist keine Theorie.
Schon heute sind im aktuellen Rechts- und Vergütungsrahmen visionäre Behandlungspfade möglich und umsetzbar. Es bedarf jedoch noch einiger Kraftanstrengungen auf allen Seiten, um Pilotprojekte von der Blaupause in die flächendeckende Realität umzusetzen.
Doch anstatt zu warten, dass die zunehmende Erwartungshaltung der Patient:innen oder der Platz im internationalen Ranking zur benötigten tiefgreifenden Veränderung des deutschen Gesundheitswesens führt, braucht es Visionäre, Mutige und Vorreiter. Diese werden sich in ihren Ergebnissen vergleichen und durch belebende Konkurrenz am Gesundheitsmarkt für die notwendigen Veränderungen aus dem System heraus sorgen.