Wie digital ist meine Praxis?

Stefan Spieren MBA

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2023

Computer und digitale Helfer gehören für niedergelassene Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen zum Praxisalltag. Gesetzliche Regelungen verpflichten sie zudem, sich an die Telematikinfrastruktur (TI) anzubinden und die Dienste der TI zu nutzen.

Ein kritischer Blick zurück auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens in den vergangenen Jahren zeigt jedoch, dass die neuen Pflichtanwendungen nur einen geringen Mehrwert und Nutzen für die Praxisorganisation gebracht haben.

Eine durch sinnvolle digitale Anwendungen unterstützte Praxisorganisation hingegen wirkt sich durchaus positiv auf die alltägliche Arbeit in den Arztpraxen aus: Zeit wird eingespart, Kosten gesenkt, Patient:innen können digitale Angebote orts- und zeitunabhängig nutzen und es werden (medizinische) Fehlerquellen minimiert. Gleichzeitig werden Arbeitsabläufe, Verwaltungsprozesse und die Kommunikation in der Praxis erleichtert. Kurzum: Die Arbeitswelt einer Praxis wird flexibler.

Eine digitale Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass interoperable Technologien für die digitale Patientenlenkung eingesetzt werden – von der Terminvereinbarung bis zur Therapiebegleitung. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Patient:innen gehen mittlerweile davon aus, dass Praxen untereinander vernetzt sind. Und sie fordern das auch ein. Eine solche Vernetzung soll in Zukunft durch die elektronische Patientenakte (ePA), die Nutzung von Kommunikation im Medizinwesen (KIM – sicherer E-Maildienst innerhalb der TI) und den TI-Messenger erfolgen.

Welchen Nutzen haben digitale Anwendungen?

Die Arztpraxis Spieren & Kollegen setzt seit langem eine Vielzahl digitaler Tools ein und ist damit einer der Vorreiter für die Digitalisierung ärztlicher Praxen in Westfalen- Lippe. In unser Arztpraxis gehören digitale Anwendungen wie die Online-Terminvergabe, die digitale Anamnese, die digitale Rezeptbestellung und das E-Rezept zum Praxisalltag.

Mit Hilfe der Online-Terminbuchung können Patient: innen rund um die Uhr Termine vereinbaren, ohne die Praxis analog kontaktieren zu müssen. Die digitale Anamnese umfasst beispielsweise das Ausfüllen des arztgruppenspezifischen Erstaufnahmebogens oder der Datenschutzerklärung per Tablet oder Smartphone. Die gebuchten Termine und ausgefüllten Bögen werden automatisiert der Patientenakte im Praxisverwaltungssystem zugeordnet.

Die digitale Anamnese kann auch mit der Online-Terminvergabe verbunden werden. Hierdurch können Patient: innen Formulare schon vor ihrem Termin digital ausfüllen und der Praxis zukommen lassen. Die Daten werden papierlos gespeichert, der Übertragungsaufwand in der Praxis entfällt. Digitale Telefonassistenten können MFA heute bereits bei der Anrufannahme entlasten. Telefonische Terminanfragen werden von intelligenten Sprachcomputern direkt in den Terminkalender eingetragen – eine manuelle Bearbeitung ist dann nicht mehr erforderlich.

Das E-Rezept ist ab dem kommenden Jahr verpflichtend für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Schon heute bieten viele Praxen eine Online-Rezeptbestellung an. In Kombination mit dem E-Rezept wird zum einen die Zettelwirtschaft in den Praxen reduziert und zum anderen die Patient:innen entlastet. E-Rezepte werden digital erstellt, übermittelt und eingelöst.

Die ePA führt – wenn sie flächendeckend eingeführt und in den Systemen vernünftig umgesetzt ist – zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung. Sie bietet einen schnelleren und effizienteren Überblick über die Krankengeschichte von Patient:innen.

Digitaler Praxis-Check zur Identifikation von Optimierungspotenzialen

Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) hat zusammen mit der Universität Witten/Herdecke ein Reifegradmodell für Praxen entwickelt. Mit diesem Praxis-Check können Praxisinhabende selbstständig den Digitalisierungsgrad ihrer Praxis ermitteln. Die fünf wesentlichen Digitalisierungsdimensionen einer Praxis (Unternehmenssteuerung, Infrastruktur, Behandlung & Therapie, Patientenlenkung sowie Administration) werden dabei in 25 Kriterien unterteilt. Zu jedem Kriterium existieren fünf Ausprägungen, in die die Praxis entsprechend eingeordnet wird. Das Ergebnis des Reifegradmodells wird grafisch aufbereitet, sodass Praxisinhabende den Status quo der Digitalisierung in ihren Praxen mit einem Blick erfassen

können. Daraus werden mögliche Verbesserungsbedarfe ab- und so fundierte Veränderungen eingeleitet. Die KVWL bietet ihren Mitliedern Unterstützung bei der Reifegradermittlung und der Analyse der Ergebnisse an. In Zukunft ist eine Weiterentwicklung des Reifegradmodells mit einer Gewichtung entlang verschiedener Dimensionen und abgeleitet nach Facharztgruppen geplant.

Vielfältige Herausforderungen hemmen die Digitalisierung

Um den Nutzen digitaler Anwendungen erleben zu können, müssen Praxen einige Herausforderungen bewältigen. Zunächst müssen sie den Überblick über die digitalen Tools des Gesundheitswesens behalten. Doch dieser Digitalisierungsdschungel wächst jährlich durch die Vielzahl an Anbietern, Anwendungen und Möglichkeiten, die auf den Markt strömen.

Es fehlt an Markttransparenz im Bereich der Primärsysteme, aber auch den digitalen Tools zur Prozessunterstützung. Mangelnde Bewertungskriterien behindern die Beurteilung, welche Systeme interoperabel sind und in der Praxis zum Einsatz kommen sollen. Dies hemmt – neben den ökonomischen Erwägungen – den Willen zum Systemwechsel und führt dazu, dass Praxen freiwillige digitale Anwendungen nur selten umsetzen.

Um das Machtungleichgewicht zwischen Praxen und IT-Herstellern zu reduzieren, engagiert sich die KVWL gemeinsam mit weiteren KVen für die Nutzung des § 332 b SGB V (Rahmenvereinbarungen mit Anbietern und Herstellern von IT-Systemen). In Kooperation mit der KBV werden Workshops zur Definition von Anforderungen an moderne IT und ihre Rahmenbedingungen durchgeführt.

Darüber hinaus existiert im Gesundheitswesen auf vielen verschiedenen Ebenen eine Schnittstellenherausforderung. Sowohl die semantische als auch die technologische und versorgungsorientierte Interoperabilität fehlen. Informationen scheitern an inkompatiblen Systemen und Sektorengrenzen.

Außerdem müssen Ärzt:innen und Psychotherapeut: innen viele gesetzliche Vorgaben berücksichtigen. Beispiele hierfür sind die verpflichtenden Anwendungen der TI, die in der Vergangenheit selten einen direkten Mehrwert für Praxen brachten und unausgereift in die Versorgung gebracht wurden. Die praktischen Nutzererfahrungen wurden früher selten in die Spezifikations- und Produktentwicklungen der TI-Anwendungen einbezogen. Dadurch unterstützen die bestehenden Anwendungen die Prozesse in den Praxen nicht sinnvoll. Umso wichtiger ist die enge Kooperation von KVen und gematik.

So können z. B. TI-Feldtests unterstützt werden und Beratungen aus Anwenderperspektive zur prozessualen Machbarkeit im Praxisbetrieb erfolgen.

Auch in der Telemedizin ergeben sich Herausforderungen. Die bestehenden Angebote sind meist nicht niedrigschwellig nutzbar – weder von Praxen noch von Patient: innen. Das Potenzial der Anwendungen wird daher nicht ausgeschöpft. Dies liegt unter anderem an den Abrechnungssystematiken, dem fehlenden gesetzlichen Rahmen, der Unwissenheit um die Potenziale der Anwendung, aber auch an fehlenden Praxisbeispielen. Die KVWL bietet ihren Mitgliedern zahlreiche Beratungsangebote und veranstaltet zu aktuellen digitalen Themen immer wieder Informationsveranstaltungen.

Zu guter Letzt müssen wir uns mit fortschreitender Digitalisierung dringend alle dem Thema digitale Kompetenz zuwenden und alle Beteiligten in diesem Transformationsprozess mitnehmen. Aus diesem Grund führt die KVWL aktuell ein BMG-gefördertes Projekt zur Qualifizierung von Digitalisierungsbeauftragen – den sogenannten Digi-Manager:innen – in Praxen durch. Um Patient:innen die Nutzung digitaler Anwendungen zu erleichtern, werden in Westfalen-Lippe aktuell sogenannte Digitale Versorgungs-Assistent:innen (DIVA) etabliert. Die/der DIVA unterstützt Patient:innen bei der Anwendung von digitalen Tools, wie z. B. Online-Terminbuchungen von zu Hause. DIVAen sollen durch eine spezielle Fortbildung durch die Akademie der Ärztekammer Westfalen Lippe qualifiziert werden.

reifegradmodell

Digitalisierung der Arztpraxis: Was wir brauchen, damit sie gelingt

Neben einer ausgedehnten und gestuften Einführungsphase für TI-Anwendungen braucht es verbindliche Anforderungen an moderne IT-Systeme für Praxen. Auch muss die Finanzierung der notwendigen Investitionen für die digitale Transformation der Praxen gesichert sein. Ein Praxiszukunftsgesetz für die Digitalisierung von Praxen kann dabei helfen. Durch ein solches Investitionsförderungsprogramm würde die Nutzung von Anwendungen aus Telemedizin und Telematik verstärkt.

Gezielte finanzielle Anreize würden weiterhin zum vermehrten Einsatz von digitalen Tools führen und die Umsetzung der Anforderungen an die IT-Sicherheit in Praxen unterstützen.

 

Patient:innen gehen mittlerweile davon aus, dass Praxen untereinander vernetzt sind.

Stefan Spieren MBAFacharzt für Allgemeinmedizin und Allgemeinchirurgie, Lehrbeauftragter und Lehrarzt
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