Weckruf aus dem digitalen Dornröschenschlaf: Europas digitale Zeitenwende!

Der Handschlag von Schottland hallt noch nach. Als Donald Trump Ende Juli EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf einem Golfplatz empfing, wurde Europa einmal mehr vorgeführt, was es heißt, aus einer Position der Schwäche heraus zu verhandeln. Die ursprünglich drohenden 30 Prozent Zölle auf europäische Produkte waren zwar vom Tisch – aber 15 Prozent blieben. Ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Status quo.

Beim Treffen Trumps mit dem ukrainischen Präsidenten in Washington, an dem zahlreiche Staats- und Regierungschefs Europas sowie die EU-Kommissionspräsidentin als Beiwerk teilnahmen, zeigte sich dasselbe Muster. Statt eigene Interessen selbstbewusst zu vertreten, bemühte man sich vor allem, Trump nicht zu verärgern. Schon das bloße Zustandekommen eines Gesprächs wird als großer diplomatischer Erfolg verkauft.

Und auch die Meinung vieler Kommentatoren nach den Ereignissen lautete: „Wenigstens sind wir mit einem blauen Auge davongekommen.“ Aber ist das wirklich unser Anspruch an Europa und uns selbst? Unser Kontinent steht vor den schwierigsten Herausforderungen seit Generationen: kaum Wirtschaftswachstum, raumgreifende Branchenkrisen, Fachkräftemangel und demographischer Wandel, hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und globale Unsicherheiten. Währenddessen feiern wir uns also dafür, dass es im Zollstreit nicht noch schlimmer gekommen ist – oder dass ein Treffen in Washington überhaupt stattgefunden hat?

Keine Tech-Giganten „Made in Europe“

Auch abseits der Handelspolitik fehlt es Europa an Ambition, zum Beispiel im Technologiebereich: Während wir uns geradezu lustvoll mit immer neuen Regulierungen beschäftigen, investieren andere Kontinente Rekordsummen in die Zukunft. Die USA haben 2023 mit 300 Milliarden Dollar sechsmal so viel Geld in KI gesteckt wie die gesamte EU – und 30-mal so viel wie Deutschland. Nicht anders verhält es sich beim privatwirtschaftlichen Invest: Aktuell pumpen Amerikas Tech-Konzerne zusammengenommen 350 Milliarden Dollar in AI – eine Milliarde an jedem Tag.

Andere Länder haben ebenfalls große Pläne: China steckt umgerechnet rund 180 Milliarden Dollar in Künstliche Intelligenz und setzt immer wieder neue Maßstäbe. So wurde am 11. Juli das neue Sprachmodell „Kimi 2“ des chinesischen Start-ups Moonshot AI veröffentlicht, das den Konkurrenten ChatGPT 4.0 teilweise übertrifft, Tools eigenständig ausführt, Code generiert und mehrstufige Aufgaben orchestriert.

Der Sound der Zukunft spielt also unzweifelhaft im Digitalen. Doch: Was hat Europa auf diesem Feld zu bieten? Leider bislang nicht genug, um unseren Wohlstand in die Zukunft zu tragen, wenn das KI-Zeitalter für neue volkswirtschaftliche Kräfteverhältnisse im globalen Zukunftsrennen sorgt. In den letzten 50 Jahren wurde in der EU kein einziges Unternehmen neu gegründet, das heute eine Marktkapitalisierung von mehr als 100 Milliarden Euro erreicht hat. In den USA entstanden im gleichen Zeitraum alle sechs Unternehmen mit einem aktuellen Börsenwert von über einer Billion Euro.

So darf es nicht weiter gehen, wenn wir auch künftig im geopolitischen Konzert auf Augenhöhe mitspielen wollen. Deutschland braucht stattdessen eine neue, durchaus ehrgeizige Mission: die gezielte Transformation zu einer modernen, digitalisierten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Um aufzuholen, statt abgehängt zu werden müssen wir unsere blockierte Gesellschaft mobilisieren und einen digitalen Senkrechtstart hinlegen. Das gilt auch über Deutschland hinaus: Auch unser Anspruch als Europäer braucht ebenfalls ein Update! Denn nur mit der gesamten Kraft der europäischen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft können wir in einer multipolaren Weltordnung auf Dauer Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit nach unseren Vorstellungen erhalten und gestalten.

Bayern: Kraftwerk digitaler Ideen

Die gute Nachricht: Es gibt Lichtblicke! In Bayern haben wir mit unserer Hightech Agenda die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich heimische Unternehmen schon heute die Plätze auf den Märkten von morgen sichern können. Auch darum hat sich der Freistaat nicht nur zur Start-up-Region Nummer eins in Deutschland entwickelt, sondern setzt auch europaweit neue Maßstäbe. Allein im ersten Halbjahr 2024 sammelten bayerische Start-ups knapp 2,1 Milliarden Euro Wagniskapital ein und zogen damit an Berlin mit 1,5 Milliarden vorbei. Fast jeder zweite Investoren-Euro in Deutschland landet bei jungen Wachstumsunternehmen im Freistaat. So ist Bayern zum Kraftwerk digitaler Ideen geworden – mit 538 Gründungen im letzten Jahr, 20 Prozent aller Start-up-Gründungen in Deutschland.

München führt inzwischen auch das Städteranking des Start-up-Verbands an. Dort hat etwa das KI-Start-up Helsing seinen Sitz, das mit 600 Millionen Euro Risikokapital europaweiter Spitzenreiter ist. Aber auch etablierte Tech-Giganten wie Google investieren gezielt in der bayerischen Landeshauptstadt. Und kürzlich gelangen uns in München weitere Ansiedlungen von führenden Technologieunternehmen wie OpenAI, TikTok und TSMC. Nicht umsonst rangiert unser Ökosystem an der Isar im aktuellen Tech-Ökosystem-Index unter den Top-20 der Welt – als einzige Region in Deutschland und vor globalen Metropolen wie Peking oder Seattle.

Europas Zukunftsregion gestalten

Angesichts dieser bemerkenswerten Erfolge der jüngeren Vergangenheit sind wir auf einem guten Weg, die von mir ausgeflaggte Mission mit Leben zu erfüllen: Bayern zur führenden digitalen Zukunftsregion Europas zu machen – lebenswert, innovativ und inklusiv. Die digitale Transformation soll den Menschen im Zuge dessen konkrete Verbesserungen bringen im Alltag, im Umgang mit Behörden und durch einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Mein Ministerium fungiert dabei als Architekturbüro für einen modernen Digitalstaat und gestaltet die Zukunft von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft proaktiv.

Dafür bauen wir auch systematisch die Kooperation mit anderen Vorreiter-Regionen in Europa aus. Zuletzt haben wir neue Brücken nach Paris und Wien geschlagen und die Tech-Achse von Zürich über St.-Gallen nach München ausgebaut. Im kommenden Jahr werde ich nach Kopenhagen, Stockholm und Tallinn reisen, um die Zusammenarbeit mit den dortigen Tech-Zentren zu intensivieren. Gemeinsam mit unseren Partnern aus ganz Deutschland wollen wir zudem eine KI-Gigafactory der Europäischen Union mit bayerischer Beteiligung realisieren – diese Deutschland-Bewerbung muss gelingen und sollte zwingend bundesweit koordiniert werden.

Mehr Förderung, weniger Regulierung

Zum Glück ist auch die neue Bundesregierung bei der Technologieförderung aktiv geworden: Die ,Hightech Agenda Deutschland‘ nach bayerischem Vorbild ist ein wichtiger Schritt – 5,5 Milliarden Euro zusätzlich aus dem Sondervermögen zeigen, dass die Richtung stimmt.

Und auch Europa kann die Wende schaffen, denn: unser Kontinent hat keineswegs ein Talent-Problem. Uns fehlen nicht die brillanten Köpfe – das Problem ist vielmehr, dass wir ihnen das Leben unnötig schwer machen: In der EU gibt es allein mehr als 100 technologiebezogene Gesetze und über 270 Regulierungsbehörden im Bereich digitaler Netze. Für mich steht darum fest: Regulierungen wie der AI Act und der Data Act müssen radikal vereinfacht und europaweit homogenisiert werden, wenn wir im Wettbewerb mit Asien und den USA bestehen wollen.

KI braucht Energie und Infrastruktur

Daneben müssen wir als Standort für digitale Infrastrukturen attraktiver werden. Hierbei spielt verlässliche Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen eine Schlüsselrolle: Das Training von KI-Modellen erfordert massive Rechenleistung, weshalb Rechenzentren schon heute für 2,7 Prozent des EU-Strombedarfs verantwortlich sind. Bis 2030 wird dieser Verbrauch um 28 Prozent steigen.

Meine Antwort darauf: ein verbilligter „KI-Strompreis“ für Rechenzentren, deren Hardware definierte Nachhaltigkeits-Standards erfüllt. So verbinden wir Innovation mit Klimaschutz und schaffen Wettbewerbsvorteile für europäische KI-Unternehmen.

Eigene europäische Chip-Industrie

Schließlich erfordert es die geopolitische Lage zwingend, endlich ein eigenes Ökosystem für fortschrittliche Chips innerhalb der EU aufzubauen. Bei russischer Energie haben wir schmerzlich erfahren, wohin umfassende Abhängigkeiten führen – bei digitalen Technologien dürfen wir nicht den gleichen nochmal Fehler machen. Derzeit liegt unsere Abhängigkeit von außereuropäischen Technologien jedoch bei über 80 Prozent. Bei Halbleitern dominieren die USA die Entwicklung, während Asien die Produktion beherrscht.

Umso eklatanter ist unser Bedarf an einem europäischen Masterplan für digitale Souveränität: eigene Weltklasse-Player bei KI- und Quantenchips, europäische Cloud-Infrastrukturen und strategische Technologien aus Europa müssen zum politischen Gebot der Stunde werden. Andernfalls droht erstinstanzlich wirtschaftlicher Schaden und mittelfristig der Verlust von Souveränität, Sicherheit und Freiheit.

Senkrechtstart statt Stillstand

Kurzum: Europa steht am Scheideweg. Entweder wir finden uns dauerhaft in der Rolle eines Junior-Partners mit Wohlstandsverlusten ein, der den Zenit seiner Volkswirtschaft überschritten hat – oder wir kämpfen um unseren Platz an der technologischen Weltspitze von morgen. In Bayern haben wir uns für den zweiten Weg entschieden – mit der richtigen Strategie, mutigen Investitionen und unternehmerischem Selbstvertrauen.

Deutschland hat die Wahl: Weiter Wunden lecken und von der Seitenlinie der großen Tech-Revolution unserer Zeit aus hoffen, dass auch in Zukunft alles gut geht? Oder unsere Zukunft selbstbewusst in die Hand nehmen und sie proaktiv gestalten. Bayern ist inzwischen zu einem wesentlichen Tech-Hotspot im Herzen Europas gereift. Wir wollen nicht länger passiv dabei zusehen, wie Andere den Wohlstand der Zukunft untereinander verteilen. Wir wollen uns unser Stück vom Zukunftskuchen sichern und sind bereit, in der Spitze an der digitalen Aufholjagd Europas mitzuarbeiten. Der globale Weckruf des KI-Zeitalters darf in Europa nicht länger überhört werden – dabei muss auch und insbesondere Deutschland aus seinem digitalen Dornröschenschlaf erwachen!