Was die Gesundheitspolitik jetzt tun muss: DIGITALISIERUNG, RESTRUKTURIERUNG, DEKARBONISIERUNG

Everything that can be invented has been invented“, sagte dem Vernehmen nach Charles Holland Duell, von 1898 bis 1901 Kommissar des amerikanischen Patentamtes. Heute schmunzeln wir über diese scheinbar naive Denkweise, die dennoch vor dem dynamischen Hintergrund der damaligen Zeit – Erfindung des Automobils, Elektrifizierung der Großstädte, neue Kommunikationswege durch Telefon und Telegrafie – verständlich und nachvollziehbar ist.

Tatsächlich stehen wir in allen Lebensbereichen vor einem ähnlich großen technischen Quantensprung, allerdings mit der eher demütigen Grundhaltung, dass die konkreten Auswirkungen auf unseren Lebensalltag noch gar nicht in vollem Umfang absehbar sind. Was vor über 100 Jahren das Fortschreiten der Industrialisierung war, ist heute die Digitalisierung, ist die Nutzung gigantischer Datenmengen, sind Algorithmen gestützte Interaktionsund Kommunikationsformen, die unser Leben dauerhaft und vom Ausmaß her unabsehbar verändern werden.

Digitalisierung kann ihre positive Wucht und Dynamik erst entfalten, wenn sie auf effizienten Strukturen beruht.

Die Medizin war schon immer ein zentraler, integraler Bestandteil der Gesellschaft und ihrem Wesen nach Innovations- und Fortschrittstreiber. Von der Antike bis in die Neuzeit bildete sie die Spitze der wissenschaftlichen und gleichzeitig auch der technologischen Erkenntnis. Trotz der unbestreitbar großen Fortschritte bei Diagnose und Therapie hat die Medizin zumindest diese zweite Funktion teilweise an große IT-Konzerne verloren, die mittlerweile für die Medizin, aber auch für viele andere Industrien den Takt vorgeben. (Die aktuellen Produktionsschwierigkeiten in vielen Branchen etwa rühren vor allem von einem Mangel an Chips und Computertechnologie her.)

Dabei ist eine digitalisierte Medizin wichtiger denn je zuvor. Nur mit Digitalisierung und Technisierung werden wir bei Diagnose und Therapie die gewaltigen Datenmengen zum Wohle der Patienten nutzen können, werden wir Krankheitsbilder entdecken, deren Entstehung uns bisher verschlossen blieb. Das medizinische Personal wird durch Unterstützung bei automatisierten Prozessen und bei der Dokumentation entlastet, was dazu beiträgt, die Medizin menschlicher zu machen, weil zumindest etwas Druck aus den wirtschaftlich getriebenen Prozessen genommen wird. Nur mit einer effizienten, digital basierten Medizin werden wir die Generationenaufgabe lösen, vor dem Hintergrund des demografischen Wandels unsere gute medizinische Versorgung dauerhaft leistungsfähig und finanzierbar zu halten.

Digitalisierung als Gradmesser für das Gesundheitssystem
Wie kein Gesundheitsminister vor ihm hat Jens Spahn erkannt, dass die Digitalisierung des Gesundheitssystems entscheidend ist für die künftige Qualität der Krankenversorgung. Die Einführung der elektronischen Patientenakte war in diesem Zusammenhang ein historisches Projekt, das bei aller noch vorhandenen Unvollkommenheit wahrscheinlich erst in der Nachbetrachtung entsprechend gewürdigt wird. Dennoch ist dieser fleischgewordene Baustein der Digitalisierung zumindest im internationalen Maßstab nicht seiner Zeit voraus, sondern lediglich ein Lückenschluss im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie etwa Dänemark oder Lettland, die auf dem Weg zu einer digital gestützten Medizin bereits erheblich weiter sind.

In die Reihe der Vordenker für eine moderne Medizin reiht sich auch der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ein, der mit seiner Krankenhausstrukturreform ein zweites zentrales Problem angegangen ist, nämlich die unausgewogene Versorgung zwischen Ballungsräumen und ländlicher Region sowie die Überversorgung mit kleinen und kleinsten Krankenhäusern. In Nordrhein-Westfalen stehen wir wie in vielen anderen Regionen Deutschlands vor der Situation, dass Ballungsräume häufig überversorgt werden, während die medizinische Grundversorgung in ländlichen Regionen, auch durch den Rückgang der klassischen Hausärzte, zunehmend gefährdet ist. Hinzu kommt, dass sich viele Krankenhäuser nach wie vor als Generalisten verstehen, die im Grunde unabhängig von den Fallzahlen fast alle Behandlungsmaßnahmen durchführen.

Neustrukturierung erforderlich
Beide Themen beeinflussen sich gegenseitig. Digitalisierung kann ihre positive Wucht und Dynamik erst entfalten, wenn sie auf effizienten Strukturen beruht – die Digitalisierung allein macht aus schlechten analogen Prozessen keine funktionierenden Abläufe, sondern es entstehen dann eben schlechte digitale Prozesse. Ebenso kann Digitalisierung nicht das Manko einer wenig funktionalen, durch Kleinteiligkeit geprägten Krankenhauslandschaft kompensieren. Hier wird massiv Potenzial und damit auch Geld verschenkt. Auf der anderen Seite wird es auch keine funktionierende Krankenhauslandschaft ohne zugrundeliegende Digitalisierung geben. Nur dadurch ist gewährleistet, dass die Qualität der Medizin durch Konzentration und Zentrenbildung in der Spitze, aber eben auch in der Breite vor allem im ländlichen Raum hoch bleibt.

In einer künftigen Struktur mit großen spezialisierten Einheiten für komplexe Krankheitsbilder kann die Grundversorgung nur durch den Einsatz von Telemedizin, Telekonsilen und vielen weiteren digital gestützten Angeboten garantiert werden. Mehr noch: Diese Services ermöglichen nicht nur die Basisversorgung, sondern auch die Anbindung der ländlich geprägten Regionen an die Spitzenmedizin. Diese Zukunftsvision muss nicht zwingend mit einer dramatischen Verringerung der Anzahl an Krankenhäusern einhergehen, auch wenn eine gewisse Reduzierung sinnvoll ist. Vielmehr kommt es darauf an, eine klare Aufgabenteilung herzustellen: Kleine Kliniken sorgen für die notwendige Versorgung in der Fläche, größere Einheiten mit einer entsprechenden hohen Fallzahl sind für komplexere Krankheitsbilder und Operationen zuständig. Wer nun dieses Modell logisch und zukunftsfähig findet – und das ist es auch – sollte dabei allerdings nicht die Mentalität des von Partikularinteressen geprägten deutschen Gesundheitssystems vergessen, das in der Vergangenheit immer wieder sinnvolle Entwicklungen zerredet und blockiert hat.

Gesundheitswirtschaft muss nachhaltig werden
Insofern ergeben sich aus dieser Analyse die zentralen Aufgaben der Gesundheitspolitik nach der Regierungsbildung: Auch gegen manche Widerstände, (1) die durch das Krankenhauszukunftsgesetz angestoßene Digitalisierungsoffensive mit einer (2) Neuausrichtung der deutschen Krankenhauslandschaft zu verbinden. Beide Ziele gehören untrennbar zusammen. Es hat in diesem Zusammenhang durchaus eine gewisse Tragik, dass sowohl die ersten Erfolge bei der Digitalisierung als auch der Neugestaltung der Kliniklandschaft durch die Bewältigung der Pandemie überlagert wurden.

Der dritte Punkt im Pflichtenheft der Gesundheitspolitik ist neu, aber nicht weniger existenziell. Es geht darum, die größte Branche in unserem Industrieland, nämlich die Gesundheitswirtschaft, nachhaltig und umweltgerecht aufzustellen und damit auch grundlegend zu verändern. Bislang spielten die Themen Klima und Nachhaltigkeit noch fast keine Rolle, verstanden sich doch insbesondere die Krankenhäuser traditionell als die „Guten“, und damit befreit von der „Purpose“-Diskussion, das Ringen um gesellschaftliche Akzeptanz, welches viele andere Industrien umtreibt. In diesem Garten Eden kann und darf die Medizin aber nicht bleiben, auch weil die Fakten dies nicht rechtfertigen. Im Gegenteil: Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ emittiert das Gesundheitswesen mit 4,4 Prozent der Emissionen weltweit mehr als etwa der Flugverkehr oder die Schifffahrt. Allein in Deutschland gehen jährlich rund 57,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent und damit 5,2 Prozent der gesamten nationalen Emissionen auf das Konto des Gesundheitswesens.

Green Hospital folgt auf Smart Hospital
Die Politik muss also, und dies ist Aufgabenfeld (3), auch die Bedeutung des Gesundheitssystems für den Klimaschutz erkennen und in Verbindung mit dem notwendigen ressourcenschonenden Umbau unserer Industriegesellschaft entsprechende politische Rahmenbedingungen schaffen. Allerdings ist dies nicht nur Thema der Politik allein, sondern auch der handelnden Akteure im Gesundheitswesen, die selbst in der Verantwortung stehen. Zu einem ganzheitlichen Ansatz der Medizin gehört auch die Erkenntnis, dass nur in einer intakten Umwelt Menschen gesund bleiben und gesund werden können.

An der Universitätsmedizin Essen haben wir diesen Weg, in der bescheidenen Erkenntnis noch ganz am Anfang zu stehen, dennoch mit Entschlossenheit begonnen. Dazu haben wir bereits im vergangenen Jahr einen Klimamanager ernannt , der die Aktivitäten rund um das Thema Nachhaltigkeit koordiniert. Unterstützt wird er durch eine übergeordnete Arbeitsgruppe „Team Green” aus den wichtigsten  Schnittstellenabteilungen im Konzern. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem unseren rund 130 Nachhaltigkeitsbeauftragten aus jeder Abteilung und jedem Standort unseres Krankenhauskonzerns zu. Wir wollen nicht nur beim Smart Hospital, sondern auch beim Green Hospital Wegbereiter und Pionier einer modernen, auf den Menschen fokussierten Medizin werden.

Das Gesundheitswesen emittiert mit 4,4 Prozent der Emissionen weltweit mehr als etwa der Flugverkehr oder die Schifffahrt.


Prof. Dr. Jochen Werner,
Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender,
Universitätsklinikum Essen

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