Trotz Digitalisierungsschub steht das Miteinander im Fokus der Healthcarebranche

Die Gesundheitswirtschaft ist agiler geworden. Daran müssen sich Führungs- und Unternehmenskultur anpassen, wie die Ergebnisse des DIG-IN Digitalen Healthcare Index 2021 belegen.

Die Digitalisierung verändert den Arbeitsalltag von Management und Mitarbeitenden in der Gesundheitswirtschaft zunehmend. Das Arbeiten in virtuellen Teams aus dem Home- oder Mobile Office heraus, neue Tools und Methoden stellen etliche Anforderungen an Führungskräfte und ihre Teams – diese zu erfüllen, gelingt längst nicht immer, wie der branchenweite DIG-IN Digitale Healthcare Index 2021 zeigt. Das Arbeiten aus der Distanz, von unterschiedlichen Orten und aus verschiedenen Lebenssituationen heraus, wurde während der Covid-19-Pandemie zum neuen Standard, der – so zeigen es die Ergebnisse der aktuellen DIG-IN-Studie – nach einer neuen Führungs- und Unternehmenskultur verlangt.

Seit 2019 ermittelt das Businessnetzwerk Healthcare Frauen (HCF) e.V. mit DIG-IN durch Befragen von Führungskräften der ersten und zweiten Führungsebene im Gesundheitssektor systematisch Daten zu unternehmens- und organisationssoziologischen Aspekten und stellt damit erstmals die digitale Transformation der Branche im Zeitverlauf dar. Zentrale Studienbereiche sind die Rolle der Führungskraft, nötige Kompetenzen im Umgang mit Mitarbeitenden und Technik, der Digitalisierungsgrad von Unternehmen bis hin zu Einflüssen auf deren Kultur.

73 % der Mitarbeitenden im Homeoffice, doch virtuelle Meetings ermüden

Die Ergebnisse des DIG-IN Reports 2021 belegen ebenso Weiterentwicklung wie Defizite: So passen sich die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft und ihre Führungskräfte zunehmend an den digitalen Wandel an – mit agilen Projektmanagement-Methoden wie Kanban und Tools wie Scrum, mit hybriden Arbeitsmodalitäten, mit veränderten Verantwortlichkeiten und Prioritäten. Allein der Anteil der Mitarbeitenden, die regelmäßig im Home-Office/Mobile Office arbeiten, hat sich branchenweit als Folge der Pandemiebeschränkungen seit 2019 verdreifacht und liegt derzeit bei 73 % und damit sogar deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Der nahtlose Zugang zu Geschäftsanwendungen für Mitarbeitende ist bei annähernd drei Viertel der Unternehmen inzwischen gewährleistet.

Gleichzeitig beschäftigt sich die Chefetage im zweiten Pandemiejahr differenzierter mit den Folgen der Digitalisierung. Ihr Fokus verschiebt sich von der Sicht auf die Branche nach innen ins Unternehmen. Der Faktor Mensch rückt in den Mittelpunkt. Und das offenbart Handlungsbedarf. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Unternehmenskultur werden zwar in Bezug auf Prozessoptimierungen und Flexibilität als Chance gesehen, doch die Befragten sehen in der verstärkten virtuellen Zusammenarbeit auch Risiken. So seien Videomeetings ermüdender und demotivierender, zudem fehle der informelle Austausch. Abstimmungsprozesse würden schwieriger, die empfundene Belastung habe zugenommen, das soziale Miteinander hingegen abgenommen. Führungskräfte und Unternehmen müssen sich nun fragen: Wie geht es Mitarbeitenden unter den veränderten Arbeitsbedingungen und was benötigen sie aktuell? Wer im Team kann remote oder hybrid arbeiten, wer eher nicht? Was bedeutet das für die Leistungsbewertung und Personalentwicklung, für das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit dem Unternehmen?

 

New Work hält Einzug in die Healthcarebranche

Das Gelingen der digitalen Transformation, so die diesjährigen Studienergebnisse, ist vor allem eine Frage der Führung sowie angepasster Strukturen und Angebote. 71 % der Befragten betrachten aktuell die Entwicklung der Führungsqualität als größte Schwierigkeit, gefolgt von einer notwendigen Veränderung der Unternehmenskultur (25 %). Vieles deutet auf eine neue Ausrichtung der Unternehmenskultur in der Gesundheitswirtschaft hin: flache Hierarchien, dezentrales Führen und Arbeiten, offene Kommunikation, neue Fehlerkultur und zeitlich flexible Feedbackkultur, hohes Vertrauen und agile Arbeitsmethoden. New Work hat Einzug in die Healthcarebranche gehalten.

Führen auf Distanz als Kompetenz wichtiger als Fachwissen

Im Ranking der als wichtig erachteten Führungskompetenzen führen zwar noch immer traditionelle Kompetenzen wie strategisches Denken, Kommunikationsfähigkeit und Entscheidungsstärke, gleichzeitig hat das Führen auf Distanz mit Platz 5 (2019: Platz 25) immens an Bedeutung gewonnen, die Coachingfähigkeit von Führungskräften ist noch wichtiger geworden. Fach- und Erfahrungswissen werden indes immer unwichtiger als Kompetenz für Vorgesetzte. Sie zählen aktuell zu den Schlusslichtern im Ranking, ebenso wie das Datenverständnis. Deutlich angestiegen ist der Wunsch nach Fortbildung zu den Themen Kommunikationsfähigkeit und Selbstmanagement – beides relevante Indikatoren für die Entwicklung von Führungsqualität. Es zeichnet sich demnach ein Mindshift in den Chefetagen der Healthcarebranche ab, der die Führungskultur nachhaltig verändern wird. Die Entwicklung geht in Richtung Arbeiten in Netzwerken statt in Hierarchien – hin zum Befähigen von Mitarbeitenden und Unterstützen von sinnhaft erlebtem Arbeiten.

Digitales Onboarding entpuppt sich als Problemfeld

Die Motivation von Mitarbeitenden sowie das Pflegen persönlicher Kontakte ist zur Herausforderung für Vorgesetzte geworden. Knapp jede dritte Führungskraft (28 %) empfindet es als schwierig, Mitarbeitende für die digitale Transformation zu begeistern. Und nahezu jede Vierte hält es für herausfordernd, den persönlichen Kontakt zu Mitarbeitenden zu halten. Dabei entpuppt sich das Onboarding als besonderes Problemfeld: Nur jede fünfte Führungskraft beurteilt das digitale Eingliedern neuer Mitarbeitender aus dem Home-Office/Mobile Office heraus als ebenso gut wie in Präsenz. Gleichzeitig bemerken 61 % der Befragten, dass die steigenden Anforderungen an inhaltliche Flexibilität und schnelle Informationsverarbeitung zu einer erhöhten Belastung ihrer Mitarbeitenden führen. Auch die subjektiv empfundene Belastung von Führungskräften hat im Vergleich zu 2019 weiter zugenommen. Erfahrungen und vorhandenes Wissen sind noch schneller überholt, bestätigen 92 % der Befragten (2019: 78 %). Die digitale Transformation fordert offenkundig ihren Tribut hinsichtlich der emotionalen und psychischen Verarbeitung des Wandels durch Mitarbeitende wie Führungskräfte.

Nachweisbarer Digitalisierungsschub in der Gesundheitswirtschaft

Der DIG-IN Digitale Healthcare Index 2021 bestimmt auch den aktuellen Digitalisierungsgrad von Unternehmen sowie den individuellen Führungsreifegrad in den Chefetagen. Zwischen 2019 und 2021 ist der durchschnittliche Digitalisierungsgrad in den Unternehmen der Gesundheitswirtschaft signifikant um fast 10 auf 58 % gestiegen (2019: 49 %). Mehr als die Hälfte der Unternehmen (54 %) kann mittlerweile als progressiv beschrieben werden, davon sogar 8 % als Digital Leader. Das entspricht nahezu einer Verdoppelung gegenüber 2019. In den vergangenen zwei Jahren ist damit knapp jedes fünfte Unternehmen vom Digital Follower zum Digital Transformer avanciert. Auch der individuelle Digitalreifegrad der befragten Führungskräfte hat sich rasant entwickelt: Während 2019 noch die Hälfte am Anfang der Entwicklung zur digitalisierten Führung stand, sind nun bereits 80 % davon digitale Mitgestalter und sogar 14 % digitale Profis, von denen es 2019 noch gar keine gab. Die Anzahl derer, die ihre Führungsarbeit erst allmählich an die Transformation anpassen, ist von 50 auf nunmehr 5 % geschrumpft! Sogenannte nichtdigitale Führungskräfte sind im Jahr 2021 nicht mehr vorhanden. Damit hat sich der digitale Führungsqualitäts-Index von 39 auf jetzt 53 % erhöht. Vielfach sind die Führungskräfte auch durch die Pandemie seit der ersten Erhebung 2019 von Getriebenen zu Treibern der Transformation im eigenen Unternehmen geworden.

Dr. Sabine Huppertz-Helmhold ist theoretische Medizinerin und Inhaberin von Professional Pharma Partner, einem Anbieter von Interim-Management für Medical Affairs im In- und Ausland. Als Beirätin Digitale Transformation der Healthcare Frauen (HCF) e.V., einem Businessnetzwerk führender Managerinnen der deutschen Gesundheitsbranche, verantwortet sie die branchenweit durchgeführte Studie DIG-IN Digitaler Healthcare Index, die seit 2019 Führungskräfte der ersten und zweiten Ebene zum Stand der Digitalisierung befragt. Bei der Handelsblatt Jahrestagung Health 2021: The Digital Future am 24. November in Düsseldorf nimmt Dr. Huppertz-Helmhold als Expertin am Panel „Health Data Governance – Wie stärken wir das digitale Rückgrat?“ teil.