Interview mit Dr. Michael Lendle, AFC Risk & Crisis Consult
Für den diesjährigen Food Safety Kongress haben Sie sich für die Lieferkettentransparenz stark gemacht und werden darüber referieren. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Dass die Anzahl der Risiken aufgrund des globalen Wareneinkaufs in den letzten Jahren weiter gestiegen ist, bejahen 90 Prozent der Unternehmen in der Ernährungsindustrie, so ein Ergebnis einer aktuellen Studie, die wir gemeinsam mit der BVE durchgeführt haben. An den Haupt-gründen, dass die Lieferketten länger, komplexer und damit weniger transparent werden, hat sich bis heute nichts geändert.
Aber viele Unternehmen sind sensibler für die Risikothemen entlang ihrer globalen Lieferketten geworden. Die Risikowahrnehmung für Produkte, Marken und Unternehmensreputation hat sich durch die Corona-Krise verändert.
Hinzu kommt, dass die Herausforderung der Unternehmen nicht nur darin besteht laufend ihr Risiko- und Krisenmanagement zu optimieren, um dem gesundheitlichen Verbraucherschutz Rechnung zu tragen, sondern auch um den zentralen Anforderungen nach Transparenz und Social Compliance ihrer Stakeholder nach zu kommen. Es kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten, potenzielle Risiken entlang der Lieferkette weder zu kennen noch erst bei konkretem Anlass zu reagierten. Und um in krisenhaften Situationen effizient agieren zu können, müssen Ansprüche eigener Stakeholder im Vorfeld bekannt sein und eine Strategie für eine angemessene und transparente Kommunikation vorliegen. Und nicht zuletzt sind die Unternehmen wegen des neuen Lieferkettengesetzes verunsichert.
Wie managen denn die Unternehmen ihre Risiken entlang der Lieferkette?
Viele Unternehmen ergreifen im Rahmen ihres Risikomanagements bereits wichtige Maßnahmen. Im Vergleich zu den Studienergebnissen aus den Jahren 2015 und 2018 hat sich in fast allen Bereichen der positive Trend fortgesetzt. So fordern 81 Prozent der Unternehmen verpflichtende Zertifizierungen von ihren Handelspartnern. Bei 79 Prozent werden regelmäßige Audits und Kontrollen vor Ort durchgeführt und 74 Prozent setzen auf eine risikobasierte Liefe-rantenbewertung.
Die Hälfte der Unternehmen nutzt ein kontinuierliches Issue-Monitoring. Diese Maßnahme zur Risikoprävention als probates Mittel, um eigene Hotspots und Risiken zu identifizieren und zu steuern, wird im Umkehrschluss von rund 50 Prozent nicht genutzt. Nur 10 Prozent der Befragten gibt an, dass im Rahmen ihres Lieferkettenmanagements Änderungen im Issue-Monitoring anstehen. Demnach besteht hier noch jede Menge Nachholbedarf.
Auch bei der Umsetzung von Kernkriterien unternehmerischer Sorgfaltspflichten besteht noch Handlungsspielraum sowie bei der Sensibilisierung und Schulung der Lieferanten bezüglich bestehender Risikothemen.
Sie sprachen davon, dass sich die Risikowahrnehmung verändert, auch durch die Corona-Pandemie. Wie sieht das konkret aus?
Laut der AFC/BVE Studie sehen sich die Unternehmen aktuell in erster Linie mit Risiken zur Lebensmittelsicherheit durch Produktkontaminationen und Allergenen konfrontiert, gefolgt von steigenden Kosten. Doch zukünftig werden andere Themen die genannten TOP 3-Risiken ablösen. An erster Stelle prognostizierten die Befragten Herausforderungen durch Lieferanten- und Lieferausfälle wie auch Warenverfügbarkeit, gefolgt vom Klimawandel und Sozialstandards.
Auch wenn die Unternehmen der Ernährungsindustrie größtenteils weniger stark
von der Corona-Pandemie betroffen waren, sind Schwachstellen in Lieferketten deutlich ge-worden. So gehen drei Viertel der Studienteilnehmer davon aus, dass sich die Lieferketten ver-ändern werden – vor allem bei der Bevorratung durch Lagerhaltung und Neubewertung der Risikofaktoren durch Hotspot-Analysen. Rund 20 Prozent wollen in den Bereichen Rückverfolg-barkeit und Kommunikation ihr Lieferkettenmanagement auf den Prüfstand stellen.
Die Verschiebung der Risikothemen und die Bandbreite weiterer Risiken macht ein Ineinander-greifen von Risikoprävention, Krisenkoordination und Kommunikation unbedingt erforderlich. Ich hoffe, dass die Unternehmen ihre Vorhaben auch in die Tat umsetzen.