Transformation in der Pandemie

Corona: Brandbeschleuniger oder Katalysator?

von Markus Hilkenbach

Zehn Quarantäne-Fälle bei über 3.200 Wuppertaler Stadtwerkern ist ein verschwindend geringer Anteil. Aber spätestens mit der Ankündigung des Lockdowns im März wurde klar, dass die Pandemie die Arbeitsplätze und Arbeitsmethoden auch bei einem traditionellen Stadtwerk fernab jeder Start-up-Mentalität radikal verändern wird. Das teilweise von der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite kritisch betrachtete Home-Office ist heute für die Verwaltungs- aber auch Planungs- und Ingenieurbereiche Alltag.

Die Schichten in Wasserwerken und Verbundleitwarte arbeiten seit März getrennt. An einem Umspannwerk ist ein Satellitenarbeitsplatz der Leitwarte errichtet. Von hier aus können, wenn alle Stricke reißen, symptomlos Infizierte die Strom- und Gasversorgung der 360.000 Einwohner Stadt aufrechterhalten. Im Zentrum aller Arbeiten stand und steht die Sicherstellung der Versorgung. Strom, Gas Wasser, aber auch Bus und Schwebebahn und Müllentsorgung müssen als Rückgrat der Kommune auch in der Krise funktionieren. Corona hat die Bedeutung kommunaler Daseinsvorsorge in ihrer Systemrelevanz neu definiert.

Krise als Chance
Gleichzeitig offenbart das Virus schonungslos betriebliche, aber auch gesamtwirtschaftliche Schwächen und Stärken. Corona sei ein Brandbeschleuniger, der in erster Linie die Macht der großen Plattformunternehmen zu Lasten der Innenstädte zementiere, beklagen Handelsverbände. Ganze Branchen werden sich nach der Krise neu erfinden müssen. Das beschleunigt Veränderungsprozesse und erfordert, Arbeitsplätze neu zu definieren. Es gilt, die Wirtschaft angesichts der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg resistent und damit zukunftsfähig neu aufzustellen. Dies betrifft ohne Zweifel auch die Infrastruktur. Das im internationalen Vergleich weiterhin in der zweiten Liga spielende Breitband-Netz ist ein Beispiel für dringenden Nachbesserungsbedarf.

Die Wuppertaler Stadtwerke versuchen, Corona als Katalysator zu nutzen. Change-Prozesse, die normalerweise eher mit einem 5-Jahres-Plan anzugehen sind, wurden binnen weniger Wochen angestoßen. Begleitet wurde der mitten in der ersten Lockdown-Phase angestoßene Prozess von der Unternehmensberatung Kienbaum. Wie können „Neue Perspektiven der Arbeit“, so der Titel des Projekts, bei den WSW aussehen – was ist das „neue Normal“? Das Projekt fiel auf fruchtbaren Boden. In Interviews und Befragungen, an denen über 15% der gesamten Belegschaft und mehr als 50% der über 1.000 im Homeoffice befindlichen Kolleginnen und Kollegen teilnahmen, wurden die Eckpunkte herausgearbeitet.

Kundenbeziehung als Teil der Veränderung
Aber nicht nur im Unternehmen selbst, auch in der Beziehung zum Kunden beschleunigt die Pandemie Transformationsprozesse. Die Digitalisierung bietet den Werkzeugkasten. Sie vollzieht sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen: im Unternehmen, in den Schnittstellen zum Kunden und beim Kunden selbst.

Noch aber hakt es in der Synchronisation der unterschiedlichen Felder. Dieses Problem durchzieht jenseits der großen Plattformanbieter alle Branchen. Vor diesem Hintergrund haben die WSW jüngst einen neuen Bereich „Digitale Lösungen“ gegründet. Hier werden interne und externe Digitalisierungsaufgaben zusammengeführt. Von digitalen Produkten, zentralen Kundenplattformen bis zum papierlosen Büro werden konzernweit alle Kräfte gebündelt. Der Bereich steuert das digitale Marketing und verknüpft die internen Prozesse von Anfang an. Die Synergiegewinne liegen in der Verzahnung der einzelnen Themen und Ressourcen, wenn über Sensorik und Long Range Wide Area Network nicht nur eigene Aufgaben wie predicitive maintenance im Leitungswassernetz digitalisiert werden, sondern auf der gleichen Infrastruktur auch Kundenlösungen entstehen.

Die Offenheit für Innovation ist aber auch jenseits der Digitalisierung zentraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Sie prägt nicht nur Management-Entscheidungen, sondern auch das Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das bedeutet für die Wuppertaler Stadtwerke aber keinen radikalen Mentalitätswandel. Der Transformationsprozess hat spätestens mit der Marktliberalisierung begonnen. Er hat die Stadtwerke-Landschaft und die WSW grundlegend verändert und gut auf die aktuellen Herausforderungen vorbereitet.

n-1 und der Mut zum Scheitern
Dass Stadtwerke gerade in ihrer Funktion als Querverbundsunternehmen zuverlässiger Versorger und zugleich Innovationstreiber sein können, zeigt das international beachtete Wuppertaler Wasserstoff-Modell. Es ist eine in dieser Form einzigartige Kooperation zwischen Abfallentsorgung, Energiewirtschaft und Mobilität.

Haus- und Gewerbeabfälle werden im innerstädtischen Müllheizkraftwerk zu Strom, Wärme und – über einen eigenen Elektrolyseur – Wasserstoff, der wiederum die Brennstoffzellen- Busflotte der WSW antreibt. Das Modell macht Schule und dient im Rahmen der vom Land NRW unterstützen Wasserstoff-Modellregion DüsselRheinWupper mit ihren knapp zwei Millionen Einwohnern als Blaupause der Sektorenkopplung.

Die Kunst der Zukunft wird es sein, auf Basis der Rolle als Infrastrukturdienstleister neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die dem Kundenbedürfnis nach nachhaltigen, individuellen und dennoch einfach zu verstehenden Produkten Rechnung tragen. Oder, um es anders auszudrücken: Es gilt, die klassische n-1 Mentalität des Netzbetreibers, die eine redundante Sicherstellung der Versorgung beschreibt, mit einer Innovationskultur, die auch den Mut zum Scheitern hat, zu verknüpfen.

Der Fokus liegt für die WSW dabei nicht im überregionalen Geschäft, sondern vor Ort, in der eigenen Stadt. Die Idee ist eine Weiterentwicklung zu einem Infrastrukturdienstleister für betriebswirtschaftlich getriebene Prozesse und Dienstleistungen einer Stadt – von der Kilowattstunde über smarte Anwendungen bis hin zu klassischen Daseinsvorsorgeaufgaben wie Mobilität, Abwasser oder Parken. Alles im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. Weiter steckt die Energiewende auf der Erzeugerseite in vielen Großstädten und Ballungszentren, wie auch in Wuppertal, noch in den Kinderschuhen. Kommunale Gebäude mit Photovoltaik-Anlagen zu erschließen, nachhaltige Mobilitätslösungen zu entwickeln oder erneuerbare Wärme über biogene Abfälle, aus Abwasserkanälen oder Biogas zu produzieren, werden zur Pflichtaufgabe. Was nicht vor Ort respektive selbst erledigt werden kann, ist in Kooperationen oder auch Bürgerbeteiligungsmodellen möglich.

Eine für urbane Zentren immer bedeutendere Aufgabe wird die Entwicklung nachhaltiger Quartiere, auch und gerade im Bestand. In einem gemeinsamen Projekt mit der Bergischen Universität und dem Bürgerverein „Aufbruch am Arrenberg“ hat die WSW den Einsatz virtueller Kraftwerke in einem Bestandquartier untersucht, und dabei überraschende Erkenntnisse gewonnen. Der Untersuchungsbereich, der Arrenberg in Elberfeld, ist mit über 6.500 Einwohnern pro Quadratkilometer eines der am dichtesten besiedelten Gebiete in Wuppertal. Mehr als 500 Haushalte nahmen an dem Feldversuch teil und wurden mit intelligenten Messeinrichtungen ausgestattet.

Über digitale und analoge Medien wurden die Teilnehmer in dem über drei Jahre angelegten Projekt darüber informiert, wann sie netzdienstlich und zugleich CO2-vermeidend Strom verbrauchen können. Unter den Teilnehmern sind auch Kunden, die dem Bild des gebildeten, umweltbewussten, der NeoÖkologie zugewandten Städters diametral entgegenstehen. Mit der richtigen Incentivierung gelingt es aber, auch diese Haushalte, die die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, zum nachhaltigen Energieverbrauch anzuregen.

Stadtwerke müssen wie Marathonläufer keine Sprinter sein, auch wenn sie die Disziplin ebenfalls beherrschen sollten. Sie gehören zu den Ausdauersportlern, der Erfolg lag und liegt auf der langen Distanz. Die Pandemie hat bei den Wuppertaler Stadtwerken und vielen anderen Kommunalversorgern dazu geführt, dass sie einen Zwischensprint eingelegt haben. Ein Zwischensprint, der zum Vorteil genutzt werden kann.

 

Die Idee ist eine Weiterentwicklung zu einem Infrastrukturdienstleister für betriebswirtschaftlich getriebene Prozesse und Dienstleistungen einer Stadt.

 

Markus Hilkenbach
Vorstandsvorsitzender
Wuppertaler Stadtwerke

 

 

 

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