Artikel aus dem Handelsblatt Journal THE FUTURE OF RETAIL vom 11.10.2022
Der Stationärhandel stand in den vergangenen Jahren vor großen Herausforderungen – Schlie-ßungen und starke Einschränkungen während der Corona-Pandemie, Fachkräftemangel, Eng-pässe in der Lieferkette. Hinzu kommen heute Inflation, sinkende Konsumlaune und die Energiekrise. All das könnte den Abgesang stationärer Handelskon-zepte einläuten, in der Praxis beobachten wir aktuell je-doch noch eine andere Entwicklung: Immer mehr vor-malige Online-Pure-Player eröffnen eigene Geschäfte und Concept Stores, in denen Kund:innen Marken und Produkte mit allen Sinnen erleben können. Sehen wir also gerade das Ende des lokalen Einzelhandels oder er-leben wir dessen Renaissance?
Die Otto Group setzt bereits seit vielen Jahren erfolg-reich auf Multichannel-Konzepte, in denen das Statio-närgeschäft ein wichtiger Bestandteil ist – heute und auch in Zukunft. Doch damit Multichannel-Vertrieb sein gesamtes Potenzial entfalten kann, müssen Händler und Marken ganzheitlich denken und die Grenzen zwischen Online und Offline auflösen. Natürlich ist das ein kom-plexer, ressourcenintensiver Prozess. Doch der Blick in andere Bereiche unseres Lebens zeigt, wie gut und auch schnell diese Transformationsprozesse gelingen können – Stichwort: Arbeitswelt. Können Sie sich vorstellen, wieder zur reinen Präsenzarbeit im Büro zurückzukehren, ganz ohne die Möglichkeit des mobilen Arbeitens? Ich auch nicht. Die Zukunft ist hybrid, in der Arbeitswelt und auch im Handel.
Vom Point-of-Sale zum Point-of-Experience
Die Vorteile des E-Commerce sind in den vergangenen zwei Jahren besonders deutlich geworden. Aber auch der Stationärhandel kann mit Alleinstellungsmerkmalen punkten: Auf keinem anderen Weg ist die Interaktion mit Kund:innen so unmittelbar und persönlich, können Marken und Produkte mit allen Sinnen erlebt werden und gute Service-Angebote die Customer Experience abrunden. Wie also lassen sich die beiden Welten mit maximalem Mehrwert für die Kund:innen vereinen?
Im Zentrum dieser Frage stehen vor allem die clevere Vernetzung der Vertriebskanäle und die Integration erfolgversprechender Instore-Technologien im Stationärhandel. In der Otto Group machen wir mit beidem sehr gute Erfahrungen. Aber das allein reicht nicht. Der Stationärhandel muss aus meiner Sicht vielmehr noch stärker als bisher vom „Point-of-Sale“ zum „Point of Experience“ werden.
Wie das gelingt, zeigt beispielsweise unser Konzern-unternehmen Manufactum. Hier ist jeder Store tatsächlich ein Ort der Begegnung zwischen Menschen und Marken. Bei Manufactum begeben sich die Kund:innen auf eine Entdeckungsreise durch den Laden und finden überall schöne Produkte aus guten Materialien. Das Ein-kaufen triggert den Spaßfaktor und bietet gleichzeitig ein tolles, haptisches Einkauferlebnis. Und natürlich setzt auch Manufactum auf das perfekte Zusammenspiel zwischen Stationär- und Onlinehandel. Übrigens hat genau das dazu geführt, dass das Unternehmen die Umsätze trotz der zwei coronabedingten Lockdowns steigern konnte.
Auch unser Konzernunternehmen Crate and Barrel zeigt, wie moderne Multichannel-Markenkonzepte aus-sehen können: Der US-amerikanische Branchenführer für Möbel und Wohnen verbindet sehr erfolgreich erlebnisorientierte Ladengeschäfte mit einer inspirierenden Online-Ansprache, digitale Design- und Visualisierungstools unterstützen ein nahtloses Einkaufserlebnis lokal sowie online. Unabhängig vom Kanal steht Inspiration im Zentrum der Customer Experience. In den 89 Stores finden deshalb regelmäßig Events rund um Design- und Entertainmenttrends statt. Ergänzt werden diese durch zusätzliche Services, etwa für Paare, die bei Crate and Barrel ihre Hochzeitsliste (Wedding Registry) hinterlegen können. Allein dieses Angebot haben mehr als zwei Millionen zukünftige Ehepaare bis dato genutzt.
Brückenschlag zwischen Stationärhandel und E-Commerce
Ein weiteres Beispiel für eine gelungene Verbindung von On- und Offline-Commerce: OTTO und ECE vernetzen ihre Einkaufswelten mit einem gemeinsamen Connected-Commerce-Konzept und haben dafür das Joint-Venture Stocksquare als Marktplatz-Connector gegründet. Stocksquare verbindet den Stationärhandel mit On-line-Marktplätzen. Bereits seit 2019 können Kund:innen sich auf otto.de darüber informieren, ob Artikel auch in einem nahegelegenen ECE-Shopping-Center verfügbar sind. Angezeigt werden dabei neben dem Ladenpreis auch Adresse, Öffnungszeiten und Kontaktinformationen. Nun ist ein weiterer hybrider Service hinzugekommen: Mit „Ship from Store“ haben Kund:innen nun die Möglichkeit, über den OTTO-Marktplatz ein Produkt direkt aus einem lokalen Geschäft zu sich nach Hause zu bestellen.
Eine Triple-Win-Situation: Lokale Einzelhändler profitieren von einer höheren Sichtbarkeit ihrer Produkte und Zugang zu den 11,5 Millionen Kund:innen von otto.de. Für Kund:innen bedeutet es eine größere Sortimentsvielfalt und höhere Verfügbarkeit der Produkte. Das wirkt sich auch positiv auf die Entwicklung unserer Marktplatz-Plattform OTTO aus, an die mittlerweile über 4.000 Partner angebunden sind. Nicht nur OTTO, sondern auch About You und MyToys sind erfolgreich mit Marktplatz-Konzepten. Starke Produktmarken nutzen das breite Angebot an Vertriebskanälen, nicht zuletzt befeuert durch den aktuellen Direct-to-Customer-Trend (D2C), der mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist. Einer aktuellen Studie von ECC Köln und Publicis Commerce Germany zufolge gehört inzwischen jede/r zweite Deutsche zu den D2C-Käufer:innen. Marktplätze erleichtern Marken den D2C-Einstieg und ermöglichen es ihnen, neben dem eigenen Webshop, ganz neue Zielgruppen anzusprechen. In der direkten Interaktion zwischen Marke und Kund:innen liegt hier großes Potenzial, im Zusammenhang mit Big Data Analytics und künstlicher Intelligenz eröffnen sich künftig ganz neue Möglichkeiten in puncto Customer Centricity.
Hybrider Handel – das Beste aus beiden Welten
Aus meiner Perspektive ist Multichannel – natürlich neben Plattform- und rein online getriebenen Markenkonzepten – einer der vielversprechendsten Wege für den Handel der Zukunft. Mit der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche sind auch im Handel Brüche zwi-schen Online und Offline immer schwerer zu erklären und können auf Dauer die Kundenbeziehung belasten. Den immer individueller werdenden Bedürfnissen der Kund:innen können Händler sowohl im Stationärgeschäft als auch im E-Commerce mit smarten, vernetzten Angeboten begegnen, die das Beste aus beiden Welten zusammenbringen. Ganz nebenbei hilft eine hybride Multichannel-Aufstellung Händlern und Marken auch, flexibler auf herausfordernde, unvorhersehbare Situationen zu reagieren.
Fakt ist: Der Weg hin zu Exzellenz, zu einem optimalen Shoppingerlebnis, ist lang und steinig – unabhängig davon, für welche Route sich Händler entscheiden. Doch wir können dieses ambitionierte Ziel nur er-reichen, wenn wir die Herausforderungen aktiv angehen und unsere Angebote konsequent kund:innenzentriert weiterentwickeln. Daran führt kein Weg vorbei.