Tod der D&O-Versicherung? – Der faktische Verlust des Versicherungsschutzes über den Schluss von der Verletzung einer Kardinalpflicht auf die Wissentlichkeit

Bislang war die D&O-Versicherung ein für Geschäftsführer nahezu unentbehrliches Versicherungsprodukt, schützte sie doch vor den finanziellen Folgen einer Inanspruchnahme auf Schadensersatz wegen einer bei Ausübung ihrer Tätigkeit begangenen Pflichtverletzung. Insbesondere bei einer Insolvenz bestehen für Geschäftsführer besonders hohe Haftungsrisiken, so kann das Zahlungsverbot des § 15b InsO (vormals § 64 GmbHG) ohne hinreichenden Versicherungsschutz den finanziellen Ruin des Geschäftsführers bedeuten. Da Insolvenzanträge regelmäßig erst Monate nach Eintritt der Insolvenzreife gestellt werden, ist die Geltendmachung von Haftungsansprüche in Millionenhöhe keine Seltenheit. Angesichts wieder steigender Unternehmensinsolvenzen im Jahresverlauf 2022 ist ein entsprechender Absicherungsbedarf demnach durchaus vorhanden.

Bis zur klarstellenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes im Jahr 2020 lehnten D&O-Versicherer in zunehmendem Maß eine Regulierung nach der Inanspruchnahme aus § 64 Satz 1 GmbHG a.F ab. Sie beriefen sich hierbei auf die durchaus umstrittene obergerichtliche Rechtsprechung, wonach der in § 64 Satz 1 GmbHG a.F. geregelte Anspruch der Gesellschaft gegen ihre Geschäftsführer keinen gesetzlichen Haftpflichtanspruch auf Schadensersatz im Sinne der D&O-Versicherungsbedingungen darstelle und somit vom Versicherungsschutz nicht erfasst sei (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 01.04.2016, 8 W 20/16; OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.07.2018, I-4 U 93/16, Urteil vom 26.06.2020, 4 U 134/18 sowie OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 07.08.2019, 3 U 6/19). In der Praxis hatte die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Folge, dass jede Versicherungsgesellschaft und jeder Versicherungsmakler bei Abschluss von neuen Versicherungen darauf hinweisen mussten, dass ein Erstattungsanspruch aus § 64 Satz 1 GmbHG nicht von dem Versicherungsschutz erfasst ist, was dazu führte, dass ein Vertrieb der Versicherungsprodukte quasi zum Erliegen kam. In der Folge passten die Versicherungsgesellschaften ihre Neuverträge dahingehend an, dass ausdrücklich geregelt wurde, dass ein Deckungsanspruch in Bezug auf Erstattungsansprüche aus § 64 Satz 1 GmbHG umfasst ist. Darüber hinaus kam es für Altverträge zu zahlreichen Anfragen bei den Versicherungsgesellschaften, was zur Verhinderung von Kündigungen ebenfalls zur Folge hatte, dass entsprechende Nachträge zu den bestehenden Verträgen klarstellten, dass eine entsprechende Deckung gegeben ist.

Der Bundesgerichtshof bejahte schließlich in seiner Entscheidung vom 18.11.2020 (Az.: IV ZR 217/19; Vorinstanz OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 07.08.2019, 3 U 6/19) die grundsätzliche Einstandspflicht der D&O-Versicherungen gegenüber Geschäftsführern für Ansprüche aus § 64 GmbHG a.F. (nunmehr § 15a Abs. 1 InsO), da nach maßgeblicher Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers/ Versicherten der Anspruch aus § 64 GmbHG auf den Ausgleich eines erlittenen Nachteils gerichtet sei und somit aus seiner Sicht einen bedingungsgemäßen Schadensersatzanspruch darstelle. Im Übrigen entspreche die Einbeziehung von Ansprüchen aus § 64 Satz 1 GmbHG in den Versicherungsschutz auch dem erkennbaren Zweck des Versicherungsvertrages. Die D&O-Versicherung diene als Fremdversicherung der Absicherung der versicherten Person vor Vermögenseinbußen, sodass der Versicherte nicht davon ausgehen werde, dass ausgerechnet das potenziell existenzvernichtende Haftpflichtrisiko aus § 64 Satz 1 GmbHG von der Deckung der D&OVersicherung ausgeschlossen sei. Mangels Entscheidungsreife verwies der Bundesgerichtshof die Sache an das Berufungsgericht zurück.

Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 28.04.2021 – 3 U 6/19) sah nun in der verspäteten Insolvenzantragstellung die Verletzung einer Kardinalpflicht durch den Geschäftsführer, welche den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung zuließe, und lehnte Ansprüche gegen die Versicherer auf Ersatz der entgegen dem insolvenzrechtlichen Auszahlungsverbot erfolgten Zahlungen erneut ab. Die streitgegenständlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen sahen vor, dass vom Versicherungsschutz Haftpflichtansprüche wegen vorsätzlicher Schadenverursachung oder durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Beschluss, Vollmacht oder Weisung oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung durch eine versicherte Person ausgeschlossen sind. Derartige Risikoausschlüsse enthalten die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der am Markt angebotenen D&O-Versicherungen regelmäßig.

Während die vorsätzliche Schadensverursachung eher geringe praktische Relevanz aufweist, ist der durch den Versicherer erhobene Einwand der Wissentlichkeit wesentlicher Haftungsausschlussgrund. Zur Verwirklichung der wissentlichen Pflichtverletzung muss der Versicherungsnehmer die von ihm verletzte Pflicht positiv gekannt sowie das Bewusstsein gehabt haben, gesetz-, vorschrifts- oder sonst pflichtwidrig zu handeln. Fahrlässige Unkenntnis oder bedingt vorsätzliches Handeln, d.h. ein lediglich für möglich Halten der Pflichtverletzung, reicht hierfür nicht aus. Es muss vielmehr feststehen, dass der Versicherte die Pflichten zutreffend gesehen hat.

Beruft sich der Versicherer auf den Haftungsausschlussgrund, ist er für die Verwirklichung der subjektiven Merkmale darlegungs- und beweispflichtig. Grundsätzlich muss der Versicherer darlegen, der Versicherungsnehmer habe gewusst, wie er sich hätte verhalten müssen. Der Versicherer hat daher Anknüpfungstatsachen vorzutragen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können. Erst wenn dies geschehen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer/ der versicherten Person im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Umstände aufzuzeigen, aus denen sich ergibt, dass die vorgetragenen Indizien den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung nicht zulassen (BGH, Urteil vom 17.12.2014 – IV ZR 90/13).

Vorgenannte Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast des Versicherers gelten nach höchstrichterlicher Rechtsprechung allerdings dann nicht, wenn es sich um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handelt, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann, sogenannte berufliche Kardinalpflichten (BGH, Urteil vom 17.12.2014 – IV ZR 90/13). In diesem Fall könne bereits vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge geschlossen werden, sodass die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung vermutet wird. Ein weiterer Sachvortrag des Versicherers ist in diesem Fall entbehrlich. Es obliegt nun vielmehr dem Versicherten, diese Vermutungswirkung zu entkräften, was sich umso schwieriger gestalten wird, je länger die streitgegenständliche Angelegenheit vergangen ist.

Bei welchen Pflichten des Geschäftsführers es sich um Kardinalpflichten handelt, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht geklärt. Nach Ansicht des OLG Köln (Urteil vom 16.11.2021 – 9 U 253/20) sowie des OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 28.04.2021 – 3 U 6/19) stellt jedenfalls die Insolvenzantragspflicht eine derartige Kardinalpflicht dar.

Zuzugeben ist, dass die ständige Überwachung der finanziellen Situation der Gesellschaft eine wesentliche Pflicht des Geschäftsführers ist. Hierfür hat er ein entsprechendes Krisenfrüherkennungs- und Krisenmanagementsystem zu installieren. Diese Pflicht hat der Gesetzgeber nunmehr in § 1 Abs. 1 StaRUG kodifiziert. Gesetzlich festgeschrieben wurden ebenfalls die nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehenden Hinweis- und Warnpflichten für Steuerberater im Rahmen der Erstellung von Jahresabschlüssen. Gemäß § 102 StaRUG müssen sämtliche Berufsangehörige, die mit der Erstellung von Jahresabschlüssen im Rahmen von Mandantenbeziehungen betraut sind, den Mandanten auf das Vorliegen eines möglichen Insolvenzgrundes und die sich daran anknüpfenden Pflichten hinweisen, wenn entsprechende Anhaltspunkte offenkundig sind und sie annehmen müssen, dass dem Mandanten die mögliche Insolvenzreife nicht bewusst ist. Die Hinweis- und Warnpflicht ersetzt allerdings nicht die eigenen Pflichten der Geschäftsleitung zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement (vgl. Begr. zu § 102 StaRUG). Ergeben sich Anzeichen einer Insolvenzreife, ist das Vorliegen eines Insolvenzgrundes besonders zu prüfen.

Zum Insolvenzantrag verpflichtende Insolvenzgründe sind dabei die eingetretene Zahlungsunfähigkeit sowie die Überschuldung. Die lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit berechtigt den Unternehmer zwar zur Antragstellung, begründet aber keine Antragspflicht.

Von Zahlungsunfähigkeit ist nach der Rechtsprechung des BGH regelmäßig auszugehen, wenn eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke 10 % oder mehr beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zuzumuten ist (BGH, Urteil vom 24.05.2005, IX ZR 123/04). Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, und die Fortführungsprognose negativ ausfällt. Der Geschäftsleiter hat im Rahmen der Überschuldungsprüfung eine Prognose zu erstellen, ob die Verbindlichkeiten des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten (§ 19 Abs. 2 InsO) bzw. derzeit vier Monaten (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 SanInsKG befristet bis 31.12.2023) mindestens zu 90 % gedeckt sind. Bei Unterschreiten des Deckungsgrades ist eine Bilanz zu Zerschlagungswerten zu erstellen, da in diesem Fall die positive Fortführungsprognose entfällt. Läuft in dem Prognosezeitraum von zwölf bzw. vier Monaten eine Prolongation oder ein Darlehen aus bzw. tritt eine anderweitige Deckungslücke ein, hat der Geschäftsführer drei Wochen Zeit auf eine Verlängerung der Darlehen bzw. Ersatzbeschaffung von Liquidität hinzuwirken, will er die Bilanzierung zu Zerschlagungswerten verhindern. Er kann sich nach ständiger Rechtsprechung nicht darauf verlassen, dass die Bank das Darlehen gegebenenfalls erneut verlängern wird oder der Gesellschafter – auch wenn in der Vergangenheit schon öfter geschehen – die Liquiditätslücke schließen wird (vgl. OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 28.04.2021 – 3 U 6/19; OLG Hamm, Urteil vom 21.11.2022, I-8 U 153/21). In der Praxis führt die Bilanzierung zu Zerschlagungswerten jedoch fast immer zum insolvenzrechtlichen Überschuldungseintritt.

Sobald Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung eintritt, hat der Geschäftsführer ohne schuldhaftes Zögern, spätestens drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. sechs Wochen (nach § 4a SanInsKG derzeit acht Wochen) nach Eintritt der Überschuldung, Insolvenzantrag zu stellen. Vorgenannte Fristen stellen dabei Höchstfristen dar, welche nur bei innerhalb der Frist erfolgsversprechenden Sanierungsmaßnahmen ausgeschöpft werden dürfen. Zeichnet sich das Scheitern der Sanierungsbemühungen bereits zuvor ab, ist der Insolvenzantrag unverzüglich zu stellen.

Ein Geschäftsführer kann sich hierbei nicht erfolgreich auf fehlende kaufmännische Kenntnisse oder eine Verteilung der Geschäftsführungsaufgaben und eine hieraus resultierende anderweitige Ressortzuständigkeit berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs hat ein Geschäftsführer eine Organisation zu schaffen, die ihm die jederzeitige Kenntnis der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft ermöglicht, bei Krisenanzeichen hat er die Insolvenzreife durch Aufstellung eines Vermögensstatus zu prüfen und schließlich muss er sich gegebenenfalls fachkundig beraten lassen, sofern er nicht über ausreichende persönliche Kenntnisse verfügt (BGH, Urteil vom 19.06.2012 – II ZR 243/11). Die Berufung auf eine anderweitige Ressortzuständigkeit bleibt ihm hierbei verwehrt, denn von seiner eigenen Verantwortung für die ordnungsgemäße Geschäftsführung wird er nicht entbunden.

Das OLG Frankfurt hatte ebenso wie das OLG Köln eine Verletzung der Insolvenzantragspflicht durch den Geschäftsführer festgestellt und daraufhin angenommen, dass aufgrund dieses Pflichtenverstoßes gegen eine Kardinalpflicht auch die nach Insolvenzreife erfolgten Zahlungen wissentlich begangene Pflichtverletzungen seien. Ausführungen zur Kenntnis des Geschäftsführers, dass die von ihm veranlassten Zahlungen gegen das insolvenzrechtliche Zahlungsverbot verstoßen, enthalten beide Urteile hingegen nicht. Angesichts der in § 15b InsO enthaltenen Ausnahmen, wonach Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind, nicht vom Zahlungsverbot erfasst sind, erscheint der Schluss der Gerichte zumindest fragwürdig. Die Insolvenzreife führt gerade nicht zu einem absoluten Zahlungsverbot. Die Kenntnis, dass die konkreten Zahlungen dem insolvenzrechtlichen Zahlungsverbot unterliegen, kann daher nicht nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden. Eine Beweislastumkehr zugunsten der Versicherer erscheint insoweit nicht gerechtfertigt.

Darüber hinaus scheint der pauschale Ausschluss des Deckungsschutzes bei verspäteter Insolvenzantragstellung auch nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur grundsätzlichen Einstandspflicht der D&O-Versicherungen zu sein, da hierdurch der Versicherungsschutz praktisch leerlaufen würde. Dennoch bleibt festzuhalten, dass ein Geschäftsführer aufgrund der aufgezeigten Tendenzen in der obergerichtlichen Rechtsprechung auf einen Deckungsschutz im Fall der verspäteten Insolvenzantragstellung nicht mehr vertrauen kann.

Im Ergebnis führt die Instanzenrechtsprechung dazu, dass im Falle einer verspäteten Insolvenzantragstellung für den Geschäftsführer regelmäßig kein Versicherungsschutz besteht. Unterstellt man, dass jede verspätete Insolvenzantragstellung als Kardinalpflichtverletzung wissentlich geschieht, so ist eine Exkulpation hiervon praktisch kaum möglich. Dies resultiert daraus, dass bei widerlegter Wissentlichkeit den Geschäftsführer kein Verschulden trifft und somit auch kein Haftungsanspruch besteht, sodass ein Versicherungsschutz nicht benötigt wird. Gelingt die Widerlegung der vermuteten Wissentlichkeit nicht, so besteht nach der Instanzenrechtsprechung kein Versicherungsschutz. Damit würde bei Fortführung der Rechtsprechungstendenzen eine Versicherung für den Fall der verspäteten Insolvenzantragstellung obsolet.