Souveränität scheitert am System: Warum die Rüstungsindustrie neue Spielregeln braucht

Einleitung

Der Ukraine-Konflikt hat Europas militärische, technologische und industrielle Verwundbarkeit offengelegt. Milliardeninvestitionen sollen die Verteidigungsfähigkeit stärken, allen voran in Deutschland. Doch der angestrebte Hochlauf scheitert an industriellen Realitäten.

Die europäische Rüstungsindustrie ist in einem Umfeld gewachsen, das die industrielle Skalierung in Teilen behindert. Trotz hoher Nachfrage gelingt es bis heute nicht, Produktionskapazitäten für Munition, Fahrzeuge und Systeme schnell hochzufahren.

Vor Jahren stand die Automobilindustrie vor ähnlichen Herausforderungen und hat sie teils längst gemeistert: Serienfertigung, Lieferkettensteuerung, Modularisierung. Könnte eine strategische Partnerschaft zwischen Verteidigung und Automobilwirtschaft zur Lösung beitragen?

Was Zusammenarbeit heute verhindert und was sich ändern sollte

Was auf dem Papier naheliegt, scheitert in der Realität an strukturellen und ökonomischen Gegensätzen.

Zwei Systeme, zwei Logiken

Die öffentliche Beschaffung ist projektgetrieben, kleinteilig und kurzatmig – mit geringen Stückzahlen, hoher Individualisierung und wenig Planbarkeit. Die Automobilindustrie dagegen funktioniert über Volumen, Standardisierung und Effizienz. Ohne verlässliche Bedarfe und langfristige Zusagen sind ihre Stärken, etwa der Optimierung von Entwicklungs- und Fertigungstiefe für schlanke Prozesse und schneller Skalierbarkeit nicht nutzbar.

Ökonomische Asymmetrie

Die wirtschaftlichen Relationen verdeutlichen das Missverhältnis: Volkswagen erzielte in einem wirtschaftlich herausfordernden Jahr 2024 einen Gewinn von 12,4 Milliarden Euro. Der größte deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall wird diese Größenordnung voraussichtlich erst 2025 beim Umsatz erreichen. Für viele OEMs ist der Verteidigungsmarkt damit kein strategisches Geschäftsfeld, sondern ein Nischensegment mit hohem Risiko und geringer Planbarkeit.

Fehlende Investitionslogik

Der Auf- und Umbau von Produktionskapazitäten in der Automobilindustrie folgt harten wirtschaftlichen Kriterien, etwa einem Return on Investment in fünf bis sieben Jahren. Diese Kalkulation lässt sich im Defence-Bereich kaum darstellen, solange der Staat weder verbindlich bestellt noch langfristig plant. Ein Aufbau von dedizierten Rüstungsfähigkeiten und -kapazitäten im großen Stil lässt sich nicht mit kurzfristigen Einzelaufträgen rechtfertigen.

Internationale Konkurrenz verschärft das Dilemma

US-Konzerne wie General Dynamics oder Lockheed Martin profitieren von einem Heimatmarkt mit klaren Volumenstrategien, politischen Schutzmechanismen und deutlich höheren Investitionsbudgets. Wer heute bei europäischen Herstellern investiert, konkurriert indirekt mit diesen Giganten – unter schlechteren Rahmenbedingungen.

Die Automobilindustrie steht selbst unter Transformationsdruck

Die Branche kämpft mit den großen technologischen Umbrüchen wie z.B. der Elektrifizierung und Fahrzeugsoftware. Hinzu kommen Absatzherausforderungen bedingt durch globale Überkapazitäten. Ein Einstieg in den Defence-Sektor wäre strategisch sinnvoll – doch nur, wenn sich dort ein neues, verlässliches industrielles Umfeld abzeichnet.

Symbolpolitik reicht nicht

Initiativen wie das Planungs- und Beschleunigungsgesetz (BwPBBG) setzen richtige Impulse, doch sie greifen zu kurz. Weniger Bürokratie hilft, löst aber nicht die grundsätzlichen Systembrüche zwischen öffentlicher Vergabe und industrieller Fertigungslogik.

Drei Hebel für echte Veränderung:

  • Volumen bündeln: Nur durch nationale Fertigung und größere Stückzahlen entsteht die kritische Masse, um industrielle Investitionen zu rechtfertigen.
  • Investitionssicherheit schaffen: Mehrjährige Bedarfszusagen sind die Voraussetzung für Infrastrukturaufbau, Personalrekrutierung und Technologieeinsatz.
  • Einkaufslogik ändern: Weg vom Projekt-, hin zum Produktdenken: Modularität, Plattformlogik, Konfigurierbarkeit – industrielles Denken statt militärischer Sonderlösung.

Auf Zeitenwende folgt Handlungsdruck

Eine echte Allianz zwischen Verteidigung und Automobilwirtschaft entsteht nur, wenn der Staat Spielregeln schafft, die industrielle Logik ernst nehmen. Wer bis 2030 verteidigungsfähig sein will, muss heute den Systemwechsel einleiten. Sonst bleibt die Souveränität ein politischer Anspruch ohne industrielle Basis.

Autor

Dr. Andreas Renz

Vice President, Capgemini Invent

Andreas Renz verantwortet bei Capgemini Invent das Defence-Geschäft in Deutschland. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in Strategieentwicklung, industrieller Transformation und digitaler Wertschöpfung – mit besonderem Fokus auf die Verteidigungs-, Automobil- und Raumfahrtindustrie.

Vor seiner Zeit bei Capgemini Invent leitete er die Strategiefunktion bei einem führenden europäischen Aerospace & Defence-Unternehmen und war zuvor als Berater sowie beim Weltwirtschaftsforum tätig. Andreas Renz ist Diplom-Wirtschaftsingenieur (KIT) und promovierter Volkswirt.