Dürfen Zählerstände nach den gesetzlichen Neuerungen noch geschätzt werden?
Grundsätzlich ja. Die Schätzung des Verbrauchs ist seit dem 27. Juli 2021 nicht mehr in der GVV (beziehungsweise nur noch über einen Verweis), sondern im EnWG geregelt. Damit gelten die Regelungen für alle Strom- und Gasversorgungsverträge, demnach auch für Verträge außerhalb der Grund- und Ersatzversorgung.
Seither werden Abrechnungen, die auf Schätzungen beruhen, von Richtern deutlich häufiger moniert, was in der anwaltlichen Praxis deutlich spürbar ist.
Prinzipiell gilt: Die Zählerablesung muss die Regel, die Schätzung darf nur die Ausnahme sein.
Der Energieversorger darf entweder die Ablesewerte oder rechtmäßig ermittelten Ersatzwerte verwenden, die er vom Messstellenbetreiber oder Netzbetreiber erhalten hat. Oder er darf die Messeinrichtung selbst ablesen oder die Ablesung der Messeinrichtung vom Letztverbraucher mittels eines Systems der regelmäßigen Selbstablesung und Übermittlung der Ablesewerte durch den Letztverbraucher verlangen, sofern keine Fernübermittlung der Verbrauchsdaten erfolgt. Rechtmäßig ermittelte Ersatzwerte liegen nur dann vor, wenn ein Letztverbraucher für einen bestimmten Abrechnungszeitraum trotz entsprechender Verpflichtung (und Aufforderung) keine Ablesedaten übermittelt hat oder der Energielieferant aus anderen Gründen, die er nicht zu vertreten hat, den tatsächlichen Verbrauch nicht ermitteln kann.
Nur dann darf geschätzt werden.
Dies wird in der Praxis leider häufig falsch gemacht. Diesbezüglich kommt es zwar in vielen Fällen nicht zu Problemen, weil der Kunde die Rechnungen oftmals einfach ohne Beanstandung bezahlt, auch wenn die abgerechneten Zählerstände auf einer unrechtmäßigen Schätzung beruhen. Wenn der Kunde die Rechnung aber nicht zahlt und es in der Folge zu einem Rechtsstreit kommt, muss der Energieversorger darlegen und beweisen können, dass die Voraussetzungen für die Schätzung vorlagen und dies gelingt häufig nicht.
In Ihrer Funktion werden Sie mit vielen Fragen aus dem Energierecht konfrontiert. Was war denn für Sie die interessanteste Frage?
„Die interessanteste Frage“ ist schwierig zu beantworten, da ich mit sehr vielen sehr interessanten Fragestellungen befasst bin. Eine für mich persönlich sehr interessante Frage in den letzten Monaten war, wie es rechtlich zu bewerten ist, wenn ein Kunde denkt, von einem anderen Versorger versorgt zu werden, dieser aber den Kunden aus dem Netz abgemeldet hat. In diesem Falle kommt der Kunde ja eigentlich automatisch in die Grund- oder Ersatzversorgung. Es gibt jedoch höchstrichterliche Rechtsprechung aus dem Jahr 2005, die besagt, dass in einer solchen Konstellation das Rechtskonstrukt einer sogenannten „Geschäftsführung ohne Auftrag“ vorläge, was ziemlich massive Folgen und Auswirkungen auf die Forderung des Energieversorgers hätte. Insofern war es sehr spannend, diese Rechtsfrage durch zwei gerichtliche Instanzen klären zu lassen. Das Ergebnis dieser Klärung war, wie auch meinerseits von Beginn des Rechtsstreits an dargelegt, dass durch die Schaffung der Ersatzversorgung gem. § 3 StromGVV/GasGVV das Rechtskonstrukt der „Geschäftsführung ohne Auftrag“ abgelöst wurde.
Neben dem Energierecht ist Ihre Expertise das Insolvenzrecht.
Für das letzte Halbjahr meldet das Statistische Bundesamt (Destatis) eine wachsende Zahl von Insolvenzen. Ist das in den Anfragen an Sie ebenfalls spürbar geworden?
Die Zahl der Anfragen ist deutlich gestiegen. Allerdings ist in den letzten Jahren ohnehin ein großer Beratungsbedarf der Energieversorger in insolvenzrechtlichen Fragen, auch präventiver Natur, festzustellen. Sie interessiert insbesondere, wie sie Zahlungsausfälle im Falle einer (drohenden) Insolvenz vermeiden oder so gering wie möglich halten können und natürlich auch die Frage, wie man sich im Falle des Erhalts einer Insolvenzanfechtung verhält.
Interessant. Haben Sie spezielle Tipps, die Sie den Versorgern dann geben?
Ja, man kann eine Vielzahl an Möglichkeiten ergreifen, um sich vor Zahlungsausfällen im Rahmen einer Insolvenz zu schützen und Insolvenzanfechtungen vorzubeugen.
Eine Insolvenz hat ja in der Regel gewisse Vorzeichen.
Zunächst einmal gerät der Kunde in eine finanzielle Krise. Das ist für die Versorger oftmals erkennbar. Zum Beispiel, wenn der Kunde „Stückelzahlungen“ leistet oder durch vermehrte Rücklastschriften oder sehr späte Zahlungen auffällt. Auch wenn Ratenzahlungen erbeten werden und die Ratenzahlung hiernach nicht eingehalten wird, sollte man hellhörig werden. Dies sind nur ein paar von vielen Beispielen.
Wichtig ist, diese Indizien zu erkennen und mit dieser Erkenntnis den Kunden im Auge zu behalten. Gleichzeitig lohnt es sich, Überlegungen anzustellen, um in das sogenannte „Bargeschäftsprivileg“ zu kommen z. B. über einen Vorkassenzähler. Damit werden Zahlungen nicht oder nur sehr schwer anfechtbar.
Nach der Krise ist die nächste Stufe der Insolvenzantrag.
Nach dem Insolvenzantrag folgt in vielen Fällen das sogenannte „vorläufige Insolvenzverfahren“. In dieser Phase kann der Energieversorger sehr viel tun, um seine zukünftigen Forderungen abzusichern. Ergreift man in dieser Phase falsche oder keine Maßnahmen, so wird man später auf die Quote verwiesen mit einer regelmäßigen Insolvenzquote von nur 0 bis 5% der Forderung. Ergreift man hingegen die richtigen Maßnahmen, so kann man seine Forderungen in aller Regel zu 100% durchsetzen.
Nach dem vorläufigen Verfahren folgt sodann, sofern die insolvenzrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen, die Verfahrenseröffnung. In dieser Phase ab Eröffnung des tatsächlichen Insolvenzverfahrens sollte man (am Beispiel des Regelinsolvenzverfahrens) so schnell wie möglich den Insolvenzverwalter auffordern, die sogenannte Erfüllungswahl gem. § 103 InsO zu treffen. Das heißt, der Insolvenzverwalter wird aufgefordert, sich zu entscheiden, ob der Vertrag fortgesetzt werden soll oder nicht. Dies ist wichtig, da Forderungen, die ohne eine solche Erklärung des Insolvenzverwalters entstehen, in aller Regel ebenfalls nur sogenannte Insolvenzforderungen sind (mit einer Quote von regelmäßig 0 bis 5%), wohingegen – bei einer entsprechenden Eintrittserklärung des Insolvenzverwalters – Masseschulden (mit einer Quote von in der Regel 100%) entstehen.
In jeder dieser Phasen kann man als Energieversorger sehr viel tun, um seine Forderungen sehr gut abzusichern. Was im konkreten Fall zu tun ist, hängt natürlich auch immer vom jeweiligen Insolvenzverfahren und der jeweiligen Verfahrensart ab. So unterscheiden sich die notwendigen Handlungen beispielsweise im Regelinsolvenzverfahren und im Eigenverwaltungsverfahren.
Es ist dringend zu empfehlen, dass sich die Mitarbeiter der Energieversorgungunternehmen bereits frühzeitig mit dem Erkennen(können) einer Insolvenzgefahr auseinandersetzen und lernen, mit den jeweiligen speziellen Verfahrensstationen umzugehen.
*Anita Würflingsdobler ist angestellte Rechtsanwältin der auf das Energierecht spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei e-rechtsanwälte.eu. Sie führte bereits über 4.000 Klageverfahren im Energierecht, Insolvenzrecht, Zutritts- und Sperrecht. Ihr Spezialgebiet ist das Insolvenzrecht in der Energieversorgung – insbesondere die Abwehr von Insolvenzanfechtungen bei Energieversorgern. Für die on-collect solutions AG ist Frau Würflingsdobler als Referentin aktiv und hält praxisbezogene Seminare zu diesen Kompetenz-Themen, unter anderem zum Insolvenzrecht, zum Energierecht und zum Zutritts- und Sperrecht. Diese sind immer bezogen auf die tägliche Praxis nebst Problemstellungen der Stadtwerke und Energieversorger.