Mitgestalten statt verwalten: Deutschland braucht ein innovationsfreundliches KI-Ökosystem

Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2023

Seit Jahren versucht Deutschland, in Sachen Digitalisierung aufzuholen. Doch nun ist der Zeitpunkt erreicht, an dem es sich keine Verzögerungen mehr erlauben darf: Mit der rasanten Entwicklung von Large Language Modellen (LLM) eröffnen sich zahlreiche neue Lösungen für die wichtigsten Probleme unseres Gesundheitswesens. Und mit verbraucherfokussierten Applikationen wie ChatGPT werden derzeit das nötige Bewusstsein und Wissen in der breiten Bevölkerung geschaffen, um diese Lösungen auch zu finden.

Hohes Potenzial von KI

Zumindest in der Theorie ist das Potenzial für KI im Gesundheitswesen enorm: Beispielsweise könnte KI die Diagnose von seltenen Krankheiten immens beschleunigen. Hier dauert es im Schnitt fünf Jahre, bis Patient:innen die korrekte Diagnose erhalten – unter anderem, weil dabei so viele einzelne Parameter mit einem enormen Hintergrundwissen zu passenden Erkrankungen überein gebracht werden müssen.

KI dagegen kann in einem Bruchteil der Zeit große Mengen an Daten analysieren, Muster erkennen und darauf basierende Empfehlungen aussprechen. Und das funktioniert sogar schon bei ChatGPT besser, als viele glauben möchten. Eine Gruppe von Forschern um Arya Rao, Harvard Medical School, attestierte dem Konsumenten- Chatbot eine Entscheidungsgenauigkeit von 72 Prozent – erstaunlich gut für ein Tool, das nicht mit medizinischem Fokus trainiert worden ist.

Wirklich spannend und einzigartig daran ist aber, dass genau dieses Tool nun jedem zur Verfügung steht. Der unbeliebte „Dr. Google” wird damit schon bald ausgedient haben. Die Frage ist nun, ob „Dr. ChatGPT“ sich einen besseren Ruf erarbeitet. Denn hierbei darf nicht vergessen werden, dass jedes LLM nur so gut wie seine Quellen bzw. deren Aufarbeitung ist. Und das ist bei ChatGPT am Ende die Gesamtheit des Internets.

Spezifische Lösungen für das Gesundheitswesen

Diese Ausgangslage können wir verbessern, indem wir LLMs spezifisch für den Gesundheitsbereich trainieren – inklusive der Definition von medizinisch akkuraten Quellen für jede Krankheitsentität. Welche Erleichterung solche medizinischen Chatbots in der Arzt-Patienten- Beziehung bringen können, sehen wir jeden Tag in unserem Unternehmen plato, das Krebs-Patient:innen kostenfrei zur Verfügung steht: Sie kommen bereits bestens vorinformiert in das Arzt-Gespräch und können so aktiver in die Behandlung eingebunden werden. Das steigert nicht nur die Zufriedenheit von beiden Seiten, sondern auch die Behandlungsqualität.

Natürlich stehen wir mit dieser Entwicklung noch am Anfang: Durch die kontinuierliche Auswertung von Patient: innen- und Ärzt:innen-Feedback müssen Antworten kontinuierlich optimiert und Themen erweitert werden. Wenn es um personalisierte medizinische Informationen geht, gilt vor allem: Better safe than sorry, um Fehlinformationen zu vermeiden. Welche dramatischen Folgen diese gerade im medizinischen Bereich haben können, hat die Pandemie zu genüge gezeigt.

Mehr Mut zu KI

Leider neigt man in Deutschland bei Herausforderungen gerne dazu, erst einmal ein Pauschalverbot auszusprechen oder die Anwendung neuer Technologien so stark zu regulieren, dass ihre Entwicklung hierzulande kaum noch möglich ist. Das muss im Bereich KI unbedingt verhindert werden.

Dazu gehört, dass die Anforderungen an Transparenz und Data Governance in einem angemessenen Verhältnis zum potenziellen Risiko stehen. Eine Applikation, die Ärzt:innen spezifische Therapie-Empfehlungen gibt, sollte zum Beispiel höhere Anforderungen haben als ein weniger spezifisches Edukationstool für Patient:innen. Zudem dürfen LLM mit Hauptsitz außerhalb Europas nicht pauschal verboten werden. In vielen Fällen gibt es schlichtweg (noch) keine vergleichbare Qualität im europäischen Raum – übrigens auch im Bereich Datenschutz. Stattdessen muss der Fokus auf der eigentlichen Intention dahinter liegen: Dem umfassenden Schutz von personenbezogenen Daten und der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sämtlicher Kommunikationswege. Dies ist der langfristig sicherere Weg, einen Missbrauch dieser Daten zu verhindern.

Tatsächlich sollten europäische Grundwerte wie Datenschutz, Gleichberechtigung und das Solidarsystem der größte Motivator für eine wirklich sinnvolle Regulation im Bereich KI sein. Denn nur, wenn europäische Unternehmen – allen voran Start-ups – die Chance erhalten, die Zukunft von KI mitzugestalten, werden wir auch Lösungen sehen, die unseren Werten entsprechen.

Überlassen wir hier hingegen den USA und China das Feld, laufen wir Gefahr, dauerhaft von Software abhängig zu sein, die höchst sensible Daten anders behandelt, als wir es hierzulande gerne hätten. Welche Konsequenzen so etwas haben kann, haben Google und Facebook in der Vergangenheit schon eindrücklich gezeigt. Deutschland darf deshalb nicht einfach zuschauen, wenn KI Geschichte schreibt. Die Innovationskraft, Motivation und Ideen haben wir dafür auch hierzulande allemal.

 

Nur, wenn europäische Unternehmen die Chance erhalten, die Zukunft von KI mitzugestalten, werden wir Lösungen sehen, die unseren Werten entsprechen.

Dr. Shari LangemakÄrztin und CEO, Plato Digital
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