Mit Transparenz gegen die Unsicherheit

Fragen an Ute Wolf, CFO, Evonik Industries AG

Ihre ganze Branche leidet seit mehreren Monaten an Störungen der Lieferketten. Wie treffen die weltweiten Engpässe Ihr Unternehmen und wie beeinflussen sie Ihre Strategie?

Die Aufrechterhaltung unserer globalen Lieferketten ist schon seit längerem durch die Folgen der Corona-Pandemie herausfordernd. Dies äußert sich für Evonik vor allem in Form steigender Preise für Rohstoffe, Packmittel und knappe Logistikkapazitäten. Der Krieg in der Ukraine verschärft diese Problematik nun – die steigenden Energiepreise wirken auf große Teile unserer Wertschöpfungskette. Wir begegnen diesen Herausforderungen mit drei wesentlichen Strategien:

Erstens stärken wir die Resilienz unserer Lieferketten durch eine weitere konsequente Verfolgung unserer Multi-Supplier-Strategie und einen Ausbau strategischer Partnerschaften mit wichtigen Lieferanten. Wir haben aus vergangenen Krisen gelernt und Instrumente für eine interne Priorisierung und ein Risikomonitoring direkt zur Hand gehabt.

Zweitens reagieren wir auf den größeren Bedarf an kurzfristigem Management von Transportkapazitäten mit einem Aufbau lokaler, global verteilter Transport-Management-Kompetenz. So kann auf Verzögerungen oder Ausfälle in der Logistikkette schnell und zielgerichtet reagiert werden. Unterstützt wird dies durch eine schrittweise Ausweitung von „Track&Trace-Lösungen“, also eine höhere Transparenz.

Transparenz ist ohnehin das Stichwort, um der aktuellen Volatilität der globalen Supply Chain erfolgreich zu begegnen. Entsprechend setzen wir drittens auf ein umfangreiches Reporting-System, damit unsere Geschäfte fortwährend über die aktuelle Versorgungssituation und Preisentwicklungen informiert sind und frühzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten können.

Beschleunigen die Lieferengpässe jetzt die Digitalisierung Ihrer Wertschöpfungsketten? Nutzt Ihr Konzern beispielsweise Blockchain-Technik oder Data Analytics, um auch Entwicklungen bei Tier2- und Tier3-Lieferanten schneller überblicken zu können?

Wir arbeiten in unserem CFO-Ressort schon lange daran, standardisierte, transparente und ganzheitlich von „Ende-zu-Ende“ betrachtete Prozesse zu implementieren. Mit Hilfe digitaler Technologien können wir dadurch effiziente und gleichzeitig im Krisenfall flexible Prozesse im gesamten CFO-Ressort sicherstellen. Entsprechend beschäftigen wir uns schon lange, unabhängig von akuten Krisensituationen oder technologischen Entwicklungen, mit den Möglichkeiten digitaler Technologien.

Um es am Beispiel unserer Supply-Chain einmal konkret zu machen: Hier nutzen wir  neben einem Machine-Learning-gestützten Webcrawler zum Monitoring ganzer Upstream-Wertschöpfungsketten, Data Analytics für die Vorhersage von Rohstoffpreisen – in einzelnen Fällen sogar künstliche Intelligenz für solche Prognosen. Darüber hinaus vernetzen wir uns mit unseren Transportpartnern, um Probleme in der Logistikkette früh erkennen zu können. Der Aufbau anderer Plattformen wird helfen, um Nachhaltigkeitsdaten mit Lieferanten automatisiert auszutauschen und auszuwerten.

Zudem evaluieren wir gerade verschiedene Möglichkeiten, die Blockchain-Technologie zur verbesserten Steuerung und Abwicklung unserer integrierten Lieferketten zu nutzen. Erste Pilotprojekte zeigen Vorteile dieses sicheren und nicht manipulierbaren Datenaustauschs auf: Erhöhung der Prozesseffizienz bei gleichzeitiger Reduzierung von Fehl- oder Falschinformationen.

Wo sehen Sie die größten Chancen der Digitalisierung für Ihr Unternehmen?

Die Chancen der Digitalisierung für Evonik sind vielfältig. Der vielleicht offensichtlichste Einsatz ist die Steigerung von Effizienz und Effektivität interner Unterstützungsprozesse – von den erwähnten Aktivitäten im Supply-Chain-Prozess über die Unterstützung der internen Unternehmenssteuerung bis hin zur Automatisierung von Abschlussprozessen. Digitalisierung sehen wir auch als wesentliches Hilfsmittel, um Transparenzanforderungen im Nachhaltigkeitsbereich zu erfüllen. Ohne Daten, die auf digitalen Plattformen für Auswertungen, Analysen und Reporting aus vielfältigen Datenquellen verfügbar gemacht werden, sind die Festlegung von Nachhaltigkeitszielen und die Messung der Zielerreichung in unseren Produktionsprozessen und Lieferketten nicht vorstellbar.

Bei Evonik nutzen wir die Chancen digitaler Technologien aber auch umfassend für Innovationen oder produktionsnahe Problemstellungen: Unser Wissensmanagement im Innovationsbereich wird durch Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt. KI-Modelle helfen uns außerdem, die Eigenschaften von Molekülstrukturen vorherzusagen. In der Produktion setzt Evonik unter anderem auf Predictive Maintenance – die Digitalisierung ermöglicht es, Wartungsarbeiten vorausschauend zu planen. So hilft sie, lange und teure Anlagenstillstände zu verringern.

Darüber hinaus entstehen auch immer mehr Ideen und Anwendungen bei der Erweiterung unserer Produktpalette um digitale Services für unsere Kunden. Ein Beispiel für unsere Aktivitäten ist COATINO®, ein digitaler Laborassistent. Er steht der Farben- und Lack-Industrie kostenlos zur Verfügung. Neben einer Produktempfehlungs-Funktion bietet COATINO® einen Sprachassistenten für die Lackindustrie, der Antworten auf komplexe Fragen zu Rezepturen und Inhaltsstoffen von Lacken gibt. Auf smarte Art gesellt sich COATINO® so zum bisher üblichen, mühsamen und zeitaufwändigen Ausprobieren.

Erwarten Sie, dass die Gefahr von Cyberattacken die Digitalisierung zurückwirft?

Das Risiko einer Cyberattacke zum Opfer zu fallen wächst ständig. Das belegen die Zahlen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik mit durchschnittlich 394.000 Schadsoftware-Varianten pro Tag und rund 144 Millionen neuen Schadprogramm-Varianten im Jahr. Das entspricht einem Anstieg von 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine ist nun noch einmal besondere Wachsamkeit vor Cyber-Angriffen geboten.

Deswegen aber das enorme Potential der Digitalisierung ungenutzt zu lassen, kommt nicht in Frage. Vielmehr ist es wichtig eine adäquate Cyber-Resilienz aufzubauen, sich gegen Cyberattacken technisch und organisatorisch gut zu rüsten. Wenn die Hersteller und Betreiber digitaler Produkte bereits in der Designphase die IT-Sicherheit berücksichtigen und über den gesamten Lebenszyklus begleiten, wird die Gefahr beherrschbarer. Dafür braucht es kontinuierliche Investitionen in Cybersicherheitstechnologien und in die Aufklärung der Mitarbeiter. Ferner sind aber auch hochspezialisierte Ausbildungs- und Studiengänge erforderlich, um den wachsenden Bedarf im Umfeld der Cybersicherheit mit Nachwuchstalenten bedienen zu können. Darauf müssen sich der Staat und die Universitäten einstellen.

Ihre Branche und Ihre Lieferanten produzieren sehr energieintensiv. Die von Evonik und anderen Chemiekonzernen angestrebte klimaneutrale und digitale Produktion erfordern große Mengen an Erneuerbaren Energien. Sehen Sie da in Zukunft einen Engpass auf Ihr Unternehmen zukommen, auf den Sie reagieren müssen?

Evonik leistet schon heute einen großen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels. Viele unserer Produkte machen nachhaltiges Wirtschaften erst möglich. Unsere Produkte finden sich in den Rotorblättern von Windrädern, in den Wänden und Fassaden energieeffizienter Häuser oder ermöglichen die Nutzung vorhandener Infrastruktur für den Transport von Wasserstoff, um nur einige direkt mit Energieversorgung verbundene Beispiele zu nennen.

Wir haben uns ambitionierte Ziele zur Reduzierung des eigenen CO2-Fußabdrucks gesetzt. Zur Erreichung dieser Ziele kommt neben Prozessinnovationen und alternativen Rohstoffquellen insbesondere der Verfügbarkeit erneuerbarer Energien eine erhebliche Bedeutung zu. Modell-Rechnungen einer Studie des VCI kommen zu dem Schluss, dass für eine klimaneutrale Chemie-Industrie in Deutschland ein zusätzlicher Bedarf an grünem Strom von 685 Terrawattstunden entsteht. Das ist mehr als die gesamte Stromproduktion Deutschlands im Jahr 2018.

Dass hier ein Engpass entstehen wird, wenn wir nicht handeln, ist offensichtlich. Genauso offensichtlich ist, dass die Wirtschaft hier abhängig von politischen Entscheidungen ist. Eine erfolgreiche Energiewende kann zwar nur mit Hilfe privatwirtschaftlicher Unternehmen erfolgreich umgesetzt, aber nicht von diesen allein eingeleitet, werden. Es ist Aufgabe der Politik Rahmenbedingungen für den Ausbau von Infrastruktur und Stromerzeugungskapazitäten zu schaffen, in der die Chemie-Industrie in Deutschland auch zukünftig wettbewerbsfähig agieren und damit einen großen Beitrag zur Klimaneutralität in Deutschland leisten kann.

                                                                                                 Die Fragen stellte Sabine Haupt