Leistungsausschluss „Wissentlichkeit“ in der D&O Versicherung – die Kardinalpflichten des Geschäftsführers erhöhen das Haftungsrisiko in der finanziellen Krise der GmbH

Bettina-Carolin Plaßmann-Robertz, Fachanwältin für Versicherungsrecht/Partner, PRO LAW Rechtsanwälte
Kilian Reintgen, Jurist, PRO LAW Rechtsanwälte

I. Einleitung
In der Praxis erheben D&O-Versicherer immer häufiger den Einwand der Wissentlichkeit, um im Falle einer Pflichtverletzung der Organe und leitenden Angestellten ihrer Versicherungsnehmer die drohende (und im Regelfall kostspielige) Regulierung abzuwenden.

Zwar obliegt dem Versicherer im Falle der Berufung auf den Ausschlussgrund der Wissentlichkeit die strenge Darlegungs- und Beweislast des § 286 ZPO, das heißt er muss grundsätzlich sowohl die objektiven als auch die subjektiven Voraussetzungen einer wissentlichen Pflichtverletzung des Geschäftsführers resp. des Organs einer versicherten Gesellschaft lückenlos nachweisen, indem er Anknüpfungstatsachen aufzeigt, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können. Erst wenn das (zur Überzeugung des erkennenden Gerichts) gelungen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer resp. der versicherten Person, im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast Umstände aufzuzeigen, aus denen sich ergibt, dass die vorgetragenen Indizien den Schlussauf eine wissentliche Pflichtverletzung gerade nicht zulassen.

Diese Hürde besteht für den Versicherer jedoch nicht, wenn sich der Vorwurf der Pflichtverletzung des Geschäftsführers auf eine sog. „Kardinalpflicht“ bezieht.

Tückisch ist, dass der Begri• der „Kardinalpflicht“ kein allgemein feststehender Rechtsbegri• ist und dieser daher auch nicht in den üblicherweise von den D&O-Versicherern verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen kodifiziert wird. Die Rechtsprechung hat diese Definitionslücke geschlossen und bezeichnet die „Kardinalpflicht“ eines Geschäftsführers oder leitenden Organs als wesentliche Hauptpflicht, die dem jeweiligen Vertragstypus immanent ist. Im Hinblick auf den Ausschlussgrund der wissentlichen Pflichtverletzung in einem D&O Versicherungsvertrag definiert  der Bundesgerichtshof (BGH) die Verletzung einer Kardinalpflicht als Verstoß gegen „elementare berufliche Pflichten“, mit der gravierenden Folge, dass (der Versicherer) in diesem Fall ausnahmsweise unmittelbar von einer objektiven Pflichtverletzung auf das Vorliegen eines Pflichtverletzungsbewusstseins bei dem Geschäftsführer resp. leitenden Organ schließen kann, dieses mithin zunächst automatisch vermutet wird (vgl. BGH Urteil vom 17. Dezember 2014, IV ZR 90/13).

Hintergrund dieser strengen Rechtsprechung des BGH ist der Umstand, dass dieser die Kenntnis elementarer beruflicher Pflichten unter Berufung auf die Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen (Geschäftsführer, Vorstand, Aufsichtsrat) voraussetzt. Zugunsten des Geschäftsführers einer GmbH muss allerdings zunächst berücksichtigt werden, dass es sog. berufsspezifische Pflichten, die aus seiner Tätigkeit als Geschäftsführer folgen, grundsätzlich nicht gibt. Die Geschäftsführertätigkeit an sich stellt keinen Beruf dar, sondern bezeichnet lediglich die organschaftliche Stellung in einem Unternehmen. Daher ist diese Tätigkeit auch an keinen bestimmten Beruf resp. eine bestimmte Ausbildung gebunden. Bezogen auf die Geschäftsführertätigkeit existieren daher berufsspezifische „Kardinalpflichten“ nur dann, wenn diese zuvor für den Einzelfall konkretisiert und (z.B. in dem Anstellungsvertrag) dargelegt wurden.

Ein erhebliches Haftungsrisiko ergibt sich daraus aber für den Geschäftsführer, wenn sich sein Unternehmen in einer finanziellen Krise befindet, denn dann lebt – ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung des BGH – eines der fundamentalen Grundprinzipien des (Kapital-) Gesellschaftsrechts wieder auf, die Gesamtverantwortung der  Geschäftsführung. Das kann dazu führen, dass die berufsspezifischen Pflichten des Geschäftsführers nicht mehr auf den in dem Anstellungsvertrag konkretisierten abgegrenzten Aufgabenbereich, z.B. das Ressort Vertrieb, begrenzt sind, sondern nunmehr in einer umfassenden und ressortübergreifenden Pflicht im Sinne einer Gesamtverantwortung münden, so dass hinter fast jeder Handlung (oder Unterlassung) im täglichen Geschäftsverkehr eine  Kardinalpflichtverletzung lauern kann.

II. Problemstellung
Der Versicherer, der sich auf den Ausschlussgrund der Wissentlichkeit beruft, muss – dies wird vorstehend bereits dargelegt – nach den Kriterien des Strengbeweises herleiten, dass der Geschäftsführer als versicherte Person die ihm (in der Regel von der Versicherungsnehmerin oder ihrem Insolvenzverwalter) vorgeworfene Pflichtverletzung wissentlich begangen hat.

Voraussetzung ist insoweit das sichere Wissen des Geschäftsführers, dass das eigene Handeln pflichtwidrig ist. Steht im Zusammenhang mit dem kritisierten Handeln der Vorwurf einer Kardinalpflichtverletzung im Raum, tri•t den Versicherer keine Beweislast mehr. Denn bei der Verletzung einer solchen Kardinalpflicht wird die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung nach ständiger Rechtsprechung des BGH zum Nachteil des Versicherten zunächst einmal indiziert.  Diese Rechtsprechung erschwert dem versicherten Geschäftsführer seine Exkulpation ungemein. Denn es obliegt ihm in diesem Fall, Indizien aufzuzeigen, die gegen die von der verletzten Kardinalpflicht ausgehende Vermutungswirkung spricht.

In der Praxis wird die theoretische Möglichkeit der Exkulpation für den Geschäftsführer meist noch dadurch erschwert, dass der streitgegenständliche Sachverhalt oftmals mehrere Jahre zurückliegt, demnach der betro•ene Geschäftsführer  keine wirklich verwertbaren Erinnerungen und Aufzeichnungen mehr vorweisen kann, und zudem häufig bereits aus dem Unternehmen, welches die Vorwürfe gegen ihn erhebt, ausgeschieden ist, so dass ihm kein oder nur eingeschränkter Zugang zu den etwaig entlastenden Informationen und Daten gewährt ist. In einer solchen Situation  wird aber häufig erstmals die Option der Erhebung einer Deckungsklage gegen den D&O-Versicherer des geführten Unternehmens geprüft, deren Erfolgsaussichten insbesondere mangels ausreichender Verfügbarkeit der entsprechenden entlastenden Daten zur Führung des Gegenbeweises regelmäßig äußerst gering sind und in vielen  Fällen sogar de facto nicht bestehen.

Denn selbst wenn es dem Geschäftsführer als versicherter Person gelingen mag, konkrete Indizien vorzulegen, die gegen den Vorwurf einer wissentlichen Pflichtverletzung sprechen, schmälern diese nicht den Rang resp. die Bedeutung der verletzten Norm, sprich der Kardinalpflicht, eine aus der Leitungsfunktion des Geschäftsführers erwachsende essenzielle Sorgfaltspflicht. Bei der Führung des Gegenbeweises muss der GF demnach berücksichtigen,  dass der Maßstab, der an die vorzubringenden Gegenindizien zu stellen ist, entsprechend der Bedeutung der verletzen Norm zunimmt.

Besondere Relevanz entfaltet (die Kenntnis über) die Kardinalpflichten des Geschäftsführers für diesen in der folgenden  Konstellation: Sein Unternehmen wird von mehreren Geschäftsführern geleitet, denen ausdrücklich verschiedene Ressorts zugewiesen sind.

Gerät dieses vorübergehend oder dauerhaft in eine finanzielle Krise, löst sich die Ressortverantwortlichkeit der Geschäftsführer auf und wird für alle zu einer ressortübergreifenden Gesamtverantwortung.

Verletzt ein Geschäftsführer in diesem Stadium seine Pflicht zur Kontrolle und Überwachung bzw. Überprüfung der Handlungen/Unterlassungen seiner Mitgeschäftsführer, so gilt dieses Versäumnis in der Regel ebenfalls als Verletzung einer – ihm selbst obliegenden – Kardinalpflicht, auch wenn die zugrunde liegende pflichtwidrige Entscheidung nicht seine eigene war und seine originäre Ressortverantwortung gar nicht tangiert.

Verlangt das Unternehmen (oder der Insolvenzverwalter) im Anschluss von den Geschäftsführern als Gesamtschuldner den Ersatz des durch die Pflichtverletzung entstandenen Schadens, lehnt der D&O-Versicherer regelmäßig auch für den nicht originär pflichtwidrig handelnden Geschäftsführer mit Verweis auf die wissentliche Verletzung einer auch ihm obliegenden Kardinalpflicht die Deckung ab.

Diese auf den ersten Blick wie eine außergewöhnliche Sonderkonstellation anmutende Haftungssituation kommt  tatsächlich regelmäßig vor und ist maßgeblich auf eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verantwortung von Organen in Kapitalgesellschaften zurückzuführen, die zwar originär ausdrücklich zur Aktiengesellschaft ergangen ist, indes inzwischen ohne Differenzierung auch auf die Gesellschaft mit beschränkter Haftung übertragen wird.

Ausgangspunkt der Verantwortung in jeder von mehreren Geschäftsleitern geführten Gesellschaft ist der Grundsatz der  Gesamtverantwortung, d.h. dass alle Geschäftsleiter gemeinsam für die Erfüllung der Pflichten der Gesellschaft die Verantwortung tragen.

Von diesem gesetzlichen Grundsatzgedanken wird in der Praxis bei größeren Gesellschaften durch die Scha•ung  verschiedener Ressorts, die ausdrücklich einzelnen Geschäftsleitern zugewiesen werden, regelmäßig abgewichen. Die Ressortverteilung führt dazu, dass sich die Pflichten der Geschäftsleiter dergestalt ändern, dass im Hinblick auf das eigene Ressort zwar Handlungs-,  Aufsichts- und Berichtspflichten bestehen, indes hinsichtlich der fremden Ressorts grundsätzlich keine Handlungs-, sondern „nur noch“ eine Kontroll- und Überwachungspflicht besteht (Stichwort: haftungsbegrenzende Ressortverteilung).

In der Praxis bedeutet dies, dass der Geschäftsführer sich – um seiner Überwachungs- und Kontrollpflicht zu genügen– von seinen Geschäftsführerkollegen resp. deren Tätigkeiten in den jeweiligen Ressorts regelmäßig unterrichten lassen muss. Aber auch dies reicht selbstverständlich nur aus, sofern nicht weitere objektive Anhaltspunkte, die den Verdacht einer unzureichenden Geschäftsführung der Mitgeschäftsführer wecken, hinzutreten und ein darüberhinausgehendes Handeln erforderlich machen. In diesem Fall entsteht nach ständiger Rechtsprechung eine gesteigerte  Überwachungspflicht im Sinne einer Nachforschungspflicht, die ein aktives Überprüfen durch die ressortfremden Geschäftsführer fordert.

Fazit: Befindet sich das Unternehmen insgesamt in einer finanziellen Krise (mit dem dann immer bestehenden Risiko einer Insolvenz), wird das vorstehend aufgezeigte ressortbedingte Pflichtenkonstrukt faktisch aufgehoben. Das Prinzip der Gesamtverantwortung „lebt wieder auf“ und führt dazu, dass jeder Geschäftsführer – ungeachtet seines Ressorts – alle wesentlichen Pflichten des Unternehmens selbst erfüllen muss (Handlungspflicht).

Das bedeutet in der Praxis, dass demjenigen Geschäftsführer, dem die verletzte Pflicht ressortbedingt grundsätzlich gar nicht oblag, dennoch von der Gesellschaft oder Dritten erfolgreich der Vorwurf gemacht werden kann, diese Pflicht nicht erfüllt zu haben.

Der D&O-Versicherer leitet daraus – im Falle einer Kardinalpflicht – regelmäßig den Vorwurf der Wissentlichkeit ab. Als Konsequenz haftet dann im schlimmsten Fall ein Geschäftsführer für das Fehlverhalten seines Kollegen persönlich und  unbeschränkt, da ihm der D&O-Versicherungsschutz aufgrund des Ausschlussgrundes der Wissentlichkeit nicht mehr zur Verfügung steht.

Dieses Vorgehen der D&O-Versicherer ist nur schwer erfolgreich zu entkräften. Der die Deckung ablehnende D&O-  Versicherer wird in diesen Konstellationen dann zum eigentlichen „Feind“ des grundsätzlich unter der Police versicherten Geschäftsführers.

III. Fazit/Ausblick
Die strenge Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs betre•end die Kardinalpflichtverletzung leitender Angestellter und Organe birgt im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung zur wiederauflebenden Gesamtverantwortung der  Geschäftsführung im Rahmen einer finanziellen Krise des Unternehmens für versicherte Geschäftsführer eine nicht zu unterschätzende Gefahr, derer sich indes nur die wenigsten Unternehmensleiter bewusst sind.

Dieser strenge Maßstab führt nicht dazu, dass die Geschäftsführung in der Unternehmenskrise, einem Zeitraum, in dem die Fehleranfälligkeit der Geschäftsführung ohnehin schon erhöht sein dürfte, einfacher wird. Gerade deshalb sollten Unternehmensleiter bereits im Eigen- und Gesellschaftsinteresse dafür Sorge tragen, dass die wesentlichen Pflichten und Verbindlichkeit der Gesellschaft vollumfänglich erfüllt werden. Hierbei ist es von überragender Wichtigkeit, dass sich jede/r Geschäftsführer/in regelmäßig selbst einen aussagekräftigen Überblick über die wesentlichen Vorgänge  sämtlicher Unternehmensbereiche verscha•t und in der Krise – falls notwendig – ressortübergreifend selbst handelt. Das eigene Handeln muss darüber hinaus zu beweisrechtlich wichtigen Dokumentationszwecken so detailliert wie möglich festgehalten werden.

Denn auch wenn die mit der Kardinalspflichtverletzung verbundene Vermutungswirkung betre•end den Einwand der Wissentlichkeit von zentralem Nachteil für den versicherten Geschäftsführer ist, so ist ein Widerlegen der vermuteten  Wissentlichkeit theoretisch möglich, scheitert indes oftmals an den benötigten Unterlagen, Daten oder Zeugenaussagen. In diesem Zusammenhang sei abschließend darauf hingewiesen, dass die Pflicht, keine  masseschmälernden Zahlungen bei bestehender Insolvenzreife zu tätigen, klassischerweise eine solche Kardinalpflicht darstellt.

Das begrüßenswerte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. November 2020 Az. IV ZR 217/19, wonach der Anspruch aus § 64 GmbHG a.F. von den D&O-Versicherungsbedingungen mitumfasst ist, darf vor diesem Hintergrund demnach  nicht fälschlicherweise dergestalt verstanden werden, dass damit in jeden Fall Versicherungsschutz bestünde. Der Bundesgerichtshof hat die Sache an die Vorinstanz u.a. mit dem Hinweis, dass eine etwaige Wissentlichkeit bislang  noch kein Gegenstand des Verfahrens gewesen ist, zurückverwiesen.

Der Umstand, dass der ursprüngliche § 64 GmbHG a.F. nunmehr in § 15b InsO vorzufinden ist, ändert hieran ebenfalls nichts. Die aus § 15b InsO abzuleitende Pflicht, keine masseschmälernden Zahlungen bei zugleich bestehender Insolvenzreife zu leisten, ist – trotz des neuen Standorts und des veränderten Wortlauts – als Kardinalpflicht im Sinne der D&O-Versicherung zu qualifizieren, sodass in diesen Fällen der Versicherer einer begehrten Einstandspflicht  regelmäßig mit dem Einwand der Wissentlichkeit begegnen wird. Der Bundesgerichtshof hätte dies durch seinen Hinweis in der Entscheidung vom 18. November 2020 nicht stärker zum Ausdruck bringen können.