Legal Risk Management für Unternehmen –Prozessrisikoanalyse

Einleitung

Recht hat für Unternehmen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, denn Recht betrifft nicht nur die rechtliche Struktur des Unternehmens selbst, sondern erfasst sämtliche Geschäftsprozesse und Bereiche des Unternehmens. Nicht umsonst hat das Thema Compliance einen immer größeren Stellenwert in der Praxis gewonnen. Bei dem Aufgabenbereich Compliance geht es jedoch nicht allein darum, bestehende Gesetze einzuhalten, sondern darum, frühzeitig etwaige Compliance-Risiken systematisch zu erfassen, zu individualisieren und zu reduzieren. Das Legal Risk Management ist aber nicht nur im Bereich Compliance von erheblicher Bedeutung für Unternehmen. Ein weiteres wichtiges Aufgabengebiet des Legal Risk Management ist die Beurteilung von Erfolgsaussichten hinsichtlich der Durchführung von Gerichts- oder Schiedsgerichtsverfahren bzw. von Vergleichsangeboten im Rahmen rechtlicher Auseinandersetzungen. Verknüpft wird diese Beurteilung mit der Erwartungshaltung der Unternehmensleitung gegenüber den sie beratenden Juristen an eine belastbare und eindeutige Handlungsempfehlung. Juristen stoßen hierbei jedoch häufig an ihre Grenzen. Zum einem lässt sich Recht nicht „berechnen“ und zum anderen werden Prozesse nicht aufgrund der Anzahl der vorgetragenen Argumente gewonnen, sondern aufgrund ihrer Überzeugungskraft. Meist erfolgt von Juristen daher nur eine vage juristische Risikoeinschätzung mit Circa-Prozentangaben, die sich auch gerne auf die Angabe „unter oder über 50 %“ beschränkt. Entsprechend ist die Handlungsempfehlung wenig verbindlich und zudem für Nicht-Juristen nur schwer nachvollziehbar. Ein Betriebswirt hingegen würde die Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Auseinandersetzung anhand einer Risikoanalyse bewerten. Auch die Validität eines Vergleichsangebots würde ein Betriebswirt kaufmännisch prüfen, nämlich zu welchem Preis ein Dritter die im Raum stehende Forderung kaufen würde. Seine Bewertung würde er anhand eines Entscheidungsbaumes vornehmen und basierend hierauf eine Handlungsempfehlung aussprechen bzw. eine Entscheidung treffen. Hieran knüpft die sogenannte Prozessrisikoanalyse (Prof. Dr. Jörg Risse/Dr. Matthias Morawietz, Prozessrisikoanalyse, 2017) an, die darauf abzielt, belastbare und für Nicht-Juristen nachvollziehbare Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.

I. Kurzdarstellung der Prozessrisikoanalyse

Im Rahmen der Prozessrisikoanalyse werden die für die erfolgreiche Geltendmachung eines Anspruchs notwendigen Voraussetzungen in einem Flussdiagramm in Form eines Entscheidungsbaums mit den jeweiligen Ausgangsalternativen pro Anspruchsvoraussetzung dargestellt und sodann die jeweiligen Ausgangsalternativen mit der jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet. Entscheidend ist, dass die Erstellung des Entscheidungsbaums in enger Abstimmung mit dem Mandanten/der Unternehmensleitung erfolgt. Im Folgenden sollen die einzelnen Schritte, die zur Erstellung eines Entscheidungsbaums erforderlich sind, kurz dargestellt werden.

1. Ermittlung der entscheidungsrelevanten Fakten Zunächst muss man ermitteln, welche tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen überhaupt für die Durchsetzung des Anspruchs entscheidungsrelevant sind. Entgegen der klassischen Arbeit von Juristen mündet das jeweilige Ergebnis jedoch nicht in dem Aufbau von Argumentationslinien, sondern dient in dem Entscheidungsbaum als sogenannter Entscheidungsknoten. In einem zu unterstellenden vereinfachten Beispielsfall eines Gewährleistungsfalles mit Forderungen in Höhe von EUR 250.000,- und einer AGB-rechtlichen Haftungsbeschränkung auf EUR 100.000,- wären somit das „Vorliegen/ Nichtvorliegen eines Mangels“, „Wirksamkeit/Unwirksamkeit der Einbeziehung der AGB“ und „Wirksamkeit/Unwirksamkeit der Haftungsbeschränkung“ wichtige Entscheidungsknoten.

2. Entscheidungsbaum erstellen

Basierend auf der oben dargestellten Ermittlung werden die ermittelten Entscheidungsknoten so miteinander verknüpft, dass die wechselseitigen Abhängigkeiten dargestellt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich die Alternativen bei jedem Entscheidungsknoten gegenseitig ausschließen. Hinzu kommt die sich aus den Entscheidungsknoten ergebende Forderung als Streckenergebnis.

3. Eintrittswahrscheinlichkeit der jeweiligen Alternativen bestimmen

In dem dritten Schritt werden die Entscheidungsknoten entsprechend der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts jeweils mit prozentualen Werten versehen. Es muss klar definiert werden, wer für die Beurteilung der Eintrittswahrscheinlichkeit über die höchste Beurteilungskompetenz verfügt. Wichtig ist zudem, dass die mit dem Entscheidungsknoten verknüpfte Frage exakt formuliert und zudem die Methode der Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit genau definiert ist.

4. Berechnung der Werthaltigkeit des Anspruchs

Bei der Bestimmung der Werthaltigkeit des Anspruchs werden zunächst die einzelnen Äste des Entscheidungsbaums betrachtet. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit bestimmt, mit der dieser Ast eintreten könnte. Diese sogenannte Streckenwahrscheinlichkeit errechnet sich aus der Multiplikation der zu dem jeweiligen Ast gehörenden Eintrittswahrscheinlichkeiten. In einem nächsten Schritt wird nun der Streckenerwartungswert errechnet. Dieser setzt sich aus der Streckenwahrscheinlichkeit und dem zuzusprechenden Ergebnis des Astes („Streckenergebnis“) zusammen. Der dritte und letzte Schritt ist die Addition aller Streckenerwartungswerte, also aller Äste.

Basierend hierauf wäre somit vorliegend ein Vergleichsangebot in Höhe von EUR 185.600,- angemessen, wobei auf die Darstellung der Sensitivitätskosten verzichtet wurde. Zu berücksichtigen wären nämlich an sich auch weitere Faktoren, die sich auf das Ergebnis auswirken können, wie zum Beispiel die anfallenden Rechtsverfolgungskosten im Fall der Nichteinigung, die internen Kosten für die Betreuung des Falles und die Abzinsung der Forderung über die Zeit eines möglichen Folgeprozesses.

II. Bewertung der Stärken und Schwächen der Prozessrisikoanalyse

Die Prozessrisikoanalyse ist nicht für alle Fälle geeignet. Denn sie ist komplex und mit erheblichem Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Oftmals wird gegen sie auch eingewandt, dass die Rechtswissenschaft keine Naturwissenschaft sei und sich Rechtsfindung nicht mathematisch berechnen lasse. Dennoch überwiegen ihre Vorteile, zumal die Prozessrisikoanalyse und die sich hieraus ergebende Handlungsempfehlung einem elementaren Bedürfnis der wirtschaftlichen Entscheidungsträger entspricht. Richtig ist, dass die Prozessrisikoanalyse kein Wunderheilmittel ist, und letztlich auf Prognosen und den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsberechnung beruht. Auch kann es eine Vielzahl von Faktoren geben, die sich in einem Entscheidungsbaum nur schwer oder gar nicht abbilden lassen. Eine grob geschätzte Prozentzahl, gepaart mit einem „hängt davon ab“, ist auf der anderen Seite nicht geeignet, eine gute Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen zu schaffen. Hinzu kommt, dass eine Risikoanalyse stets auf der subjektiven Überzeugung der jeweiligen Analysten beruht und sie zudem immer eine Prognose in die Zukunft enthält.

Dem obigen Beispiel lässt sich sehr gut entnehmen, dass ein Entscheidungsbaum den Rechtsstreit und die entscheidenden rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Fragestellungen („Entscheidungsknoten“) übersichtlich strukturiert und visualisiert. Die Kommunikation zwischen Nicht-Juristen und Juristen wird hierdurch erheblich vereinfacht. Durch den Entscheidungsbaum wird eine klare Struktur der gemeinsamen Konfliktbearbeitung und der Diskussion zwischen Juristen und Entscheidungsträgern/ Fachabteilung ermöglicht. Auch kann anhand eines Entscheidungsbaums die Zuständigkeit für die Sachverhaltsaufklärung und die Beantwortung der entscheidungsrelevanten Fragen bestimmt und für alle Beteiligten nachvollziehbar zugewiesen werden.

Der Entscheidungsbaum visualisiert die Risikoanalyse, welcher zugleich die vielen Unwägbarkeiten einer gerichtlichen Auseinandersetzung systematisch abbildet. Durch die Prozessrisikoanalyse wird somit verhindert, dass intuitive Entscheidungen, basierend auf einer zu pauschalen und somit zu optimistischen Risiko-Einschätzung getroffen werden. Zudem wechselt die Kommunikation zwischen Juristen und Nicht-Juristen von der rein juristischen Ebene („Argumentationslinien“) verstärkt in eine betriebswirtschaftliche Darstellung („Zahlen und Übersichten“). Dies erleichtert für kaufmännisch denkende Entscheidungsträger die Entscheidungsfindung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Verknüpfung zwischen den erwarteten Kosten der Auseinandersetzung und dem Prozess- Erwartungswert im Fall des Obsiegens oder Unterliegens.

Aber auch mögliche Vergleichsverhandlungen selbst werden durch den Entscheidungsbaum erleichtert, da statt nur pauschal über die vermeintlich besseren Prozess- Chancen zu diskutieren, die Parteien nun Punkt für Punkt über den Konflikt verhandeln können. Dies erleichtert vor allem für die Nicht-Juristen die Vergleichsverhandlungen, da der wirtschaftlichen Verhandlungsführung mehr Gewicht eingeräumt wird. Die Diskussionen über Rechtsfragen tritt in den Hintergrund.

Ergebnis:

Die Prozessrisikoanalyse ist nur ein Teil des Legal Risk Managements. Dennoch ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie stark mittlerweile betriebswirtschaftliches Wissen und Arbeitsmethodik in die Praxis Einzug gehalten hat, um juristische Fragestellungen über Branchen-Kenntnisse hinaus transparent zu lösen. Die Prozessrisikoanalyse mag kein Allheilmittel für alle Fallkonstellationen sein, jedoch ist sie ein methodisch sinnvoller Lösungsansatz, um Prozessrisiken systematisch und transparent darzustellen und die Entscheidungsfindung über die Durchführung gerichtlicher Verfahren bzw. den Abschluss von Vergleichen zu erleichtern.