Dr. Johannes Bohmann, Leitender Redakteur, solutions by Handelsblatt Media Group
Eigentlich sind sich alle einige darüber, dass die Corona-Pandemie gezeigt hat, wie wichtig effiziente digitale Systeme im Gesundheitswesen sind. Doch über die Wege dorthin gibt es auch verbreiteten Dissens.
„Seit Beginn des Jahres hat sich unser Leben stark verändert. Covid-19 stellte das Gesundheitssystem vor die größte Herausforderung seit Jahrzehnten.“ Diesen Sätzen, mit denen Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK), seinen jüngsten Gastbeitrag für den Handelsblatt Newsletter Digital Health beginnt, wird niemand widersprechen. Anders sieht es vielleicht mit seiner eigentlichen Kernbotschaft aus, die ein paar Sätze später folgt: „Seit Beginn der Pandemie ist Digitalisierung nicht mehr allein die Kür für Fortschrittsbewusste, sondern zur notwendigen Pflicht für die Allgemeinheit geworden, um in der Ausnahmesituation bestehen zu können. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit digitaler Transformation steht nun erstmals auf breiter gesellschaftlicher Basis. Wir diskutieren nicht mehr darüber, ob wir digitalisieren, sondern wie wir diesen Prozess beschleunigen können.“
Nicht mehr ob – sondern wie! Tatsächlich gehört die TK zu denjenigen unter den Deutschlands Gesundheitsdienstleistern, die die Digitalisierung des Gesundheitswesens beherzt vorantreiben. Schon vor anderthalb Jahren startete sie in einem Hamburger Stadtteil mit einem Programm, das der für 2022 bundesweit geplanten Einführung des E-Rezepts einen Weg weist. Dabei erhalten die Versicherten von ihrer Arztpraxis einen QR-Code auf ihr Smartphone, den sie dann in der Apotheke vorzeigen oder auch dorthin schicken können. Nach dem Scannen wird das Medikament ausgegeben bzw. geliefert. Ende Juli wurde das Modell auf ganz Deutschland ausgeweitet, auch die Barmer, die HEK und die BIG direkt gesund haben sich angeschlossen.
Der Zettelwirtschaft, die in Apotheken häufig zu Fehlhandlungen und/oder ärgerlicher Mehrarbeit führt, kann damit, so die Hoffnung, à la longue der Garaus gemacht werden. Rund 750 Millionen Rezepte werden jedes Jahr in Deutschland ausgestellt – rund jedes zehnte wird von den Kassen beanstandet. Weil ein Kreuz an der falschen Stelle gemacht wurde. Weil die Angaben schlecht lesbar sind. Weil der Arztstempel eine wichtige Information überdeckt. Oder weil die Dosierung nicht klar zu erkennen ist. Dass das E-Rezept tatsächlich Teil eines Kulturwandels ist, lässt sich vorbildhaft in dem kleinen baltischen Staat Estland besichtigen: Das Rezept auf Papier ist dort schon seit Jahren so gut wie komplett verschwunden.
Doch die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet noch viel mehr Möglichkeiten zu echten Veränderungen in der Art und Weise, wie wir uns in Zukunft um unsere Gesundheit sorgen. Für den Bereich der – durch Corona ja endlich öffentlich wahrgenommenen – Pflege etwa gibt es noch sehr viel zu tun. Noch fehlt es an Standards etwa für eine digital gesteuerte Personalplanung und die Pflege-Dokumentation sowie an technikaffinem Nachwuchs in einer notorisch unterbezahlten Branche. Zudem spielt die Pflege in den Digitalisierungsplänen der Bundesregierung bisher kaum eine Rolle. Das seit Januar 2019 geltenden Pflegepersonal-Stärkungsgesetz legt zwar eine Beteiligung des Bundes mit 40 Prozent an den Kosten fest, außerdem jeweils maximal 12.000 Euro an IT-Projekten in Pflegeeinrichtungen. Das Programm läuft jedoch nur noch bis Ende 2021.
Irene Maier, Vizepräsidentin und Digitalexpertin des Deutschen Pflegerats (DPR), hat deshalb Anfang August ein Papier vorgelegt, in dem der DPR gemeinsam mit fünf anderen Verbänden eine „nationale Strategie“ für die Pflege fordert. Es brauche, so Maier, endlich einen Überblick, wo einzelne Pflegeeinrichtungen bei der Digitalisierung stehen. Und man müsse verbindliche Ziele formulieren, die Pflegeeinrichtungen in einem festzulegenden Zeitraum erreichen sollen. Erreichen sie diese Ziele nicht, seien Sanktionen ein sinnvolles Mittel, um die Digitalisierung einzufordern. „Außerdem muss der Gesetzgeber einen verpflichtenden Termin für den Anschluss an die Telematikinfrastruktur festlegen“, sagt Maier. Insgesamt, so ihr Fazit, habe die Coronakrise der Digitalisierung leider nicht den Schub verliehen, den man sich erhofft hatte.
Ein anderes Feld, auf dem Kulturwandel möglich und nötig ist, ist das der mentalen Gesundheit. Start-ups, die Online-Beratung mit Psychotherapeuten vermitteln (Mentovia) oder sogar Kurse zu Angststörungen oder Depressionen anbieten (Selfapy, Hello Better), arbeiten bereits mit verschiedenen Krankenkassen zusammen; die Kosten für die Kurse sind vielfach erstattungsfähig. Und ein zunehmend wahrgenommener Aspekt psychotherapeutischer Hilfe ist deren Verfügbarkeit im Rahmen betrieblicher Gesundheitsvorsorge. Das österreichische Start-up InstaHelp hat sich darauf fokussiert. Es bietet psychologische Beratung per App nicht nur für Privatpersonen, sondern auch in Unternehmen. „Durch die Coronakrise ist unser Dienst enorm gefragt“, sagt InstaHelp-CEO Bernadette Frech. In Österreich bieten unter anderem Lidl, Renault und die Allianz-Versicherung den Dienst kostenlos für ihre Mitarbeiter an. In Deutschland sind bereits der Zahlungsdienstleister Klarna, Trivago sowie der Soundsystemhersteller Teufel an Bord. Insgesamt steht Instahelp bislang 22.000 Mitarbeitern im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung zur Verfügung.
Apropos Arbeitswelt: Dass der Digitalisierung auch immer wieder Skepsis auf breiter Front entgegenschlägt, beweist der im Juli dem Bundesgesundheitsminister vorgelegte „Brandbrief“ der Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und alle 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Dezidiert stellen sie sich darin gegen die Digitalisierungspläne des Ministers – und konkret gegen die für Januar 2021 vorgesehene Verpflichtung aller Praxen zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). „Gegenwärtig ist den Niedergelassenen der Mehrwert digitaler Anwendungen nicht mehr zu vermitteln“, heißt es in dem Brief. Die derzeitigen Digitalisierungskonzepte bedeuteten für die Praxen keine Arbeitserleichterung, sondern würden eine zunehmende Bürokratisierung im ärztlichen Alltag darstellen. Auf Druck der KBV und der KVen wurde dies Verpflichtung zur eAU nun auf Oktober 2021 verschoben.
Und im Umfeld dieser Diskussion wurde deutlich: Es gibt einen nicht geringen Teil der Ärzteschaft, die sich dem Anschluss an eine bundesweit einheitliche Telematikinfrastruktur weiterhin verweigert. Sebastian Zilch, Geschäftsführer des Bundesverbands Gesundheits-IT (Bvitg) hat dies heftig kritisiert. Insbesondere die Forderung des Brandbriefs, wonach die KBV und die KVen die Berechtigung wünschen, eigene IT-Systeme entwickeln und anbieten zu dürfen, hält er für den eigentlichen Grund der Verweigerung „Solch ein Ansinnen steht im Widerspruch zur Aufgabe des KV‐Systems“, so Zilch.
Nicht mehr ob – sondern wie! Dass das „Wie“ ein steiniger Weg sein kann, je nachdem welche Interessen vertreten sind und miteinander konkurrieren, ist also wieder einmal anschaulich belegt.