Frage: Frau Dr. Platzbecker, Sie nehmen an der Handelsblatt Jahrestagung Health 2025 am Round Table „Versorgungsstrukturen der Zukunft – Wie erhalten wir Qualität, Erreichbarkeit und Wirtschaftlichkeit?“ teil. Was ist Ihr persönlicher Schwerpunkt in dieser Diskussion?
Anne Sophie Platzbecker: Für mich steht die Frage im Mittelpunkt, wie wir Versorgung so gestalten können, dass sie gleichzeitig patientenzentriert, wirtschaftlich tragfähig und strukturell zukunftsfähig ist. Ich beschäftige mich als Ärztin und Wissenschaftlerin aktuell sehr intensiv mit dem Modell Hospital-at-Home. Dieses Konzept verlagert ausgewählte Krankenhausleistungen in die häusliche Umgebung der Patientinnen und Patienten. Ziel ist es, klinische Qualität zu sichern und gleichzeitig wohnortnah, effizient und für viele Menschen angenehmer zu behandeln. Gerade in Zeiten von Personalknappheit und demografischem Wandel ist es ein Modell, das die Versorgung strukturell entlasten kann.
Frage: Wo sehen Sie die größten Vorteile von Hospital-at-Home?
Anne Sophie Platzbecker: Der größte Vorteil ist die Patientenzentrierung. Viele Menschen wünschen sich, in ihrer vertrauten Umgebung versorgt zu werden, statt im Krankenhaus. International zeigt sich, dass Hospital-at-Home nicht nur die Lebensqualität steigert, sondern auch stationäre Komplikationen wie Delir, Infektionen oder Stürze reduziert. Gleichzeitig können wir Krankenhausressourcen gezielter für diejenigen einsetzen, die zwingend auf die stationäre Infrastruktur angewiesen sind. Darüber hinaus gibt es auch deutliche ökonomische Vorteile, wenn das Modell richtig umgesetzt wird.
Frage: Welche Hürden sehen Sie für die Umsetzung in Deutschland?
Anne Sophie Platzbecker: In Deutschland gibt es mehrere Hürden, die wir überwinden müssen. Ein zentrales Problem ist die Vergütung, denn unser Finanzierungssystem ist stark auf stationäre Betten ausgerichtet. Für eine hybride Versorgung zu Hause fehlen bislang passende Modelle. Hinzu kommt die starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die Verantwortlichkeiten und Abläufe erschwert. Gerade in ländlichen Regionen fehlen außerdem mobile Dienste, digitale Infrastruktur und logistische Strukturen für Monitoring und Notfallversorgung. Nicht zuletzt müssen wir auch sicherstellen, dass Qualität und Sicherheit in der häuslichen Versorgung gewährleistet sind und Angehörige nicht überlastet werden.
Frage: Wie wollen Sie diesen Hürden begegnen?
Anne Sophie Platzbecker: Wir brauchen einen schrittweisen Ansatz. Deshalb setzen wir zunächst auf Pilotprojekte, die wissenschaftlich begleitet werden – unter anderem am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, wo ich im Team von Professor Ariel Dora Stern arbeite, sowie in enger Anbindung an das Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Digitale Gesundheit und das Universitätsklinikum Dresden. Auch das neue Universitätsklinikum in Cottbus, die MUL-CT, ist
eingebunden, weil gerade dort die strukturellen Herausforderungen ländlicher Versorgung deutlich werden. Nur durch diese enge Verzahnung von Forschung und Klinik können wir zeigen, dass das Modell in Deutschland sicher und effizient funktioniert. Parallel dazu müssen wir neue Vergütungsmodelle entwickeln, die sektorübergreifend Anreize setzen und sich stärker an Ergebnisqualität orientieren. Außerdem brauchen wir klare Standards für Sicherheit, Monitoring und Kommunikation. Ein weiterer wichtiger Schritt ist, internationale Erfahrungen systematisch auszuwerten. Länder wie Israel, Spanien oder die USA haben bereits sehr erfolgreiche Programme etabliert, deren Erkenntnisse wir auf die deutsche Realität übertragen können.
Frage: Welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei?
Anne Sophie Platzbecker: Ohne digitale Technologien wird Hospital-at-Home in Deutschland nicht funktionieren. Wir benötigen Systeme, die eine kontinuierliche Erfassung von Vitalparametern ermöglichen, Videosprechstunden unterstützen und mit Frühwarnmechanismen arbeiten, damit Patientinnen und Patienten zu Hause jederzeit sicher betreut werden können. Wichtig ist dabei, dass diese Technologien interoperabel sind und dass Daten über die Sektorengrenzen hinweg nutzbar gemacht werden. Digitalisierung darf jedoch nie Selbstzweck sein, sondern muss die ärztliche und pflegerische Arbeit sinnvoll ergänzen und gleichzeitig die Patientinnen und Patienten entlasten.
Frage: Welche Rolle sehen Sie für akademische Pflegeberufe in diesem Modell?
Anne Sophie Platzbecker: Akademische Pflegekräfte werden eine tragende Rolle spielen. Sowohl Health Community Nurses (HCN) als auch Advanced Practice Nurses (APN) verfügen über besondere Qualifikationen, um ärztlich delegierbare Leistungen zu übernehmen, Patientinnen und Patienten im häuslichen Umfeld zu triagieren und komplexe Abläufe zu koordinieren. In vielen anderen Ländern ist es selbstverständlich, dass akademische Pflegekräfte die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten sind und Verantwortung in solchen Modellen tragen. Genau das möchten wir auch in Deutschland etablieren. Pflege und Medizin müssen enger verzahnt werden, damit wir die vorhandenen Ressourcen effizient einsetzen können.
Frage: Deutschland hat gerade in ländlichen Regionen und strukturschwachen Gebieten große Probleme mit Unterversorgung. Kann Hospital-at-Home hier eine Lösung sein?
Anne Sophie Platzbecker: Ja, Hospital-at-Home kann gerade in unterversorgten Regionen eine Lösung sein. In vielen Teilen Ostdeutschlands fehlen Hausärztinnen und Hausärzte, und stationäre Einrichtungen sind oft nur mit großem Aufwand erreichbar. Für ältere und pflegebedürftige Patientinnen und Patienten sind diese Strukturen eine enorme Belastung. Wenn wir mobile Teams mit telemedizinischer Unterstützung einsetzen, können Patientinnen und Patienten auch in strukturschwachen Regionen Leistungen erhalten, die bislang nur im Krankenhaus möglich waren. Deshalb planen wir die erste Umsetzung zunächst in Sachsen, koordiniert am Uniklinikum in Dresden und in Brandenburg, in der Region Cottbus, also in der Lausitz. Diese Regionen eignen sich besonders, um die Machbarkeit unter realen Bedingungen zu prüfen und daraus übertragbare Konzepte für Deutschland zu entwickeln.
Mit der Einbindung des Universitätsklinikums Dresden, des EKFZ sowie der MUL-CT in Cottbus und des Hasso-Plattner Instituts in Potsdam können wir die Modelle nicht nur praktisch umsetzen, sondern auch wissenschaftlich begleiten und evaluieren. Damit schaffen wir eine belastbare Evidenz, die über die Pilotphase hinausweist.
Frage: Wie stehen Ihre ärztlichen Kolleginnen und Kollegen zu diesem Modell?
Anne Sophie Platzbecker: Ich erlebe beides: Offenheit und Skepsis. Viele erkennen die Chancen, sehen aber auch die Risiken und Unsicherheiten. Entscheidend ist, dass Ärztinnen und Ärzte Sicherheit haben, dass ihre Patientinnen und Patienten zu Hause jederzeit adäquat überwacht werden und bei Komplikationen sofort wieder stationär aufgenommen werden können. Wenn diese Standards gewährleistet sind, kann Hospital-at-Home die Arbeit sogar erleichtern, weil es Krankenhauskapazitäten freimacht und Versorgung planbarer macht. Internationale Modelle zeigen, dass die Arbeit im Hospital-at-Home auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert, weshalb die Stellen sehr beliebt sind.
Frage: Was wünschen Sie sich von Politik und Gesundheitssystem, um Hospital-at-Home in Deutschland voranzubringen?
Anne Sophie Platzbecker: Ich wünsche mir, dass Politik und Krankenkassen den Mut haben, neue Versorgungsformen nicht nur in Pilotprojekten zu erproben, sondern auch strukturell abzusichern. Wir brauchen klare gesetzliche Rahmenbedingungen, die sektorübergreifende Versorgung ermöglichen und fördern. Dazu gehören neue Finanzierungsmodelle, die Digitalisierung der Infrastruktur und die Bereitschaft, bestehende Strukturen aufzubrechen. Wenn wir diese Schritte gehen, kann Hospital-at-Home in wenigen Jahren ein fester Bestandteil der deutschen Versorgungslandschaft werden.
Frage: Was motiviert Sie ganz persönlich, sich für dieses Thema einzusetzen?
Anne Sophie Platzbecker: Mich motiviert vor allem die Patientenerfahrung. In meiner Arbeit sehe ich, wie sehr Patientinnen und Patienten davon profitieren, wenn Versorgung flexibel, wohnortnah und individuell gestaltet ist. Gleichzeitig erlebe ich die Engpässe und Belastungen in unserem System, welche schon jetzt in vielen Regionen Deutschlands offenbar werden. Hospital-at-Home bietet die Chance, beides zusammenzubringen: bessere Lebensqualität für die Patientinnen und Patienten und eine effizientere Nutzung unserer Ressourcen. Diese Verbindung treibt mich an.