Interview mit Denise Helling, Rechtsanwältin bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, zum Thema „Lieferkettengesetz“

Die Große Koalition hat den Streit über das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ (kurz „Lieferkettengesetz“) beigelegt. Es kann damit endgültig im Bundestag beschlossen werden. Der Bundestag kommt im Juni vor der Sommerpause noch zweimal zu regulären Sitzungswochen zusammen, in denen das Gesetz verabschiedet werden könnte, voraussichtlich am 10. Juni soll die abschließende Beratung erfolgen.

Wird eine klare gesetzliche Regelung zu mehr Rechtssicherheit für Unternehmen – beispielsweise durch einheitlich akzeptierte Standards – führen?
Das Lieferkettengesetz soll zwar zu mehr Rechtssicherheit bei den betroffenen Unternehmen führen, indem es nationale Unternehmen entlang ihrer gesamten Lieferkette zur Einhaltung von Sorgfaltspflichten verpflichtet. Aufgrund der Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen (der Gesetzesentwurf enthält z.B. 49 mal das Wort „angemessen“), wird dies jedoch als fragwürdig angesehen. Sofern ein Unternehmen einen Verstoß gegen Menschenrechtsverletzungen oder umweltbezogene Pflichten feststellt, hat es nach dem Gesetzesentwurf „angemessene Abhilfemaßnahmen“ zu ergreifen. Wie diese Maßnahmen konkret auszusehen haben, lässt der Entwurf offen. Hier gilt der Grundsatz: Je stärker die Einflussmöglichkeit eines Unternehmens ist, je wahrscheinlicher und schwerer die zu erwartende Verletzung der geschützten Rechtsposition und je größer der Verursachungsbeitrag eines Unternehmens ist, desto größere Anstrengungen können einem Unternehmen zur Vermeidung oder Beendigung einer Verletzung zugemutet werden. Hinzu kommt, dass das Gesetz den Begriff der Lieferkette sehr weit definiert. So hat ein Unternehmen die Sorgfaltspflichten nicht nur innerhalb seines eigenen Geschäftsbereichs sicherzustellen, sondern auch bei Handlungen seiner unmittelbaren und auch mittelbaren Zulieferer. Häufig übersehen wird hier, dass auch rein nationale Sachverhalte erfasst werden. Denn die neuen Sorgfaltspflichten sollen nicht nur im Hinblick auf ausländische Aktivitäten bestehen. Vielmehr werden auch die inländischen Tätigkeiten der Unternehmen und ihrer Zulieferer erfasst.

Unter welchen Voraussetzungen haften Unternehmen nach dem Lieferkettengesetz im Schadensfall?
Eine zivilrechtliche Inanspruchnahme deutscher Unternehmen ist in dem Gesetzesentwurf zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, dürfte jedoch nach den allgemeinen Grundsätzen des Deliktsrechts möglich sein. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird insofern klargestellt, dass der Schutz des Gesetzes „sowohl im öffentlichen Interesse als auch im individuellen Interesse der unmittelbar Betroffenen“ erfolgen soll. Dies deutet darauf hin, dass zumindest eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Betracht kommen könnte. Gegebenenfalls wäre dann auch ausländisches Recht anzuwenden. Zukünftig soll es jedenfalls möglich sein, dass Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften private Geschädigte im Wege der besonderen Prozessstandschaft vor deutschen Gerichten vertreten können. Voraussetzung hierfür ist die Verletzung von Menschenrechten sowie die (auch konkludente) Zustimmung des Betroffenen. Die Betroffenen müssen hier geltend machen, in einer überragend wichtigen Rechtsposition verletzt zu sein.

Wann genau soll ein deutsches Unternehmen nach dem neuen Gesetz im Fall eines im Ausland eingetretenen Schadens haften und wann nicht?
Das Gesetz soll eine Bemühenspflicht, aber weder eine Erfolgspflicht noch eine Garantiehaftung der Unternehmen begründen. Das bedeutet, dass Unternehmen nicht garantieren müssen, dass in ihren Lieferketten keine Menschenrechte oder umweltbezogene Pflichten verletzt werden. Sie müssen vielmehr nachweisen können, dass sie die Sorgfaltspflichten umgesetzt haben, die vor dem Hintergrund ihres individuellen Kontextes machbar und angemessen sind.

Was sind geeignete Maßnahmen für Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie, um die Haftungsrisiken zu minimieren?
Da das Gesetz voraussichtlich noch diesen Sommer in Kraft treten wird (die abschließende Beratung des Bundestages soll am 10. Juni 2021 erfolgen), sollten die Unternehmen bereits jetzt ihre bestehenden Compliance-Regelungen überprüfen und ggf. erweitern. Insbesondere sollte die Situation sowohl im eigenen Geschäftsbereich als auch bei den Zulieferern beleuchtet werden. Denn die Missachtung von Sorgfaltspflichten kann mit erheblichen Bußgeldern geahndet werden.