Artikel aus dem Handelsblatt Journal CYBERSECURITY & DATENSCHUTZ
Zurecht sollte nicht jeder Superlativ aus dem Silicon Valley unkritisch für bare Münze genommen werden. Zweifellos zutreffend war jedoch die Prophezeiung, dass disruptive Technologien alle Teilbereiche der Gesellschaft erfassen und grundlegend verändern werden. Damit entfalteten sie auch für die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz durchschlagende Wirkung. Alle Arbeitsfelder unseres Nachrichtendienstes erfuhren eine Dynamisierung durch Digitalisierung. Wir haben unseren Dienst in einer großen Kraftanstrengung entsprechend aufgestellt, indem wir uns selbst enorm technisierten und die operative Arbeit im Cyberraum mit nationalen und internationalen Partnern ausweiteten.
Gemeinsam mit anderen Sicherheitsbehörden warnten wir früh vor den destruktiven Potenzialen der technologischen Entwicklung, die gerade liberalen Demokratien schwere Schäden zufügen können. Die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Freiheitsräume unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind Einfallstore für autoritäre Systemrivalen, die auch unter großem Einsatz geheimdienstlicher Ressourcen alle Facetten digitaler Technologien asymmetrisch auszunutzen verstehen. So naiv der Aufbruch in ein freies World Wide Web einst postuliert wurde, so dystopisch erscheint heute die drohende Landung in einem so umkämpften wie regellosen Netz, in dem Staaten einseitige nationale Internetsouveränität anstreben, Cyberwaffen weiter ausbauen und zum Einsatz bringen.
Der Informationsraum als komplexes Konfliktfeld
Leider sprechen die aktuellen geopolitischen Parameter nicht für eine Trendumkehr. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist die bislang unterschwellige Auseinandersetzung zwischen Autoritarismus und Demokratie endgültig zu einem gefährlichen multidimensionalen Konflikt eskaliert. Gewichtige Player folgen allein strategischen Motiven und positionieren sich in wechselhaften Allianzen. Asymmetrische Interdependenzen und Verwundbarkeiten werden mehr denn je identifiziert und attackiert.
Bekanntlich ist der Informationsraum ein besonders komplexes und unübersichtliches Konfliktfeld, was seine hohe Attraktion für nachrichtendienstliche Operationen erklärt. Hier sind mannigfaltige Interessen der äußeren und inneren Sicherheit eng verwoben und eine Vielzahl an Akteuren im Einsatz, deren Zielrichtung und Auftraggeber oftmals im Dunkeln liegen. Ausländische staatliche Stellen agieren vermehrt Hand in Hand mit kriminellen Gruppierungen, indem sie deren Angriffsaktivitäten zumindest dulden – wie etwa beim politisch motivierten Hacktivismus – oder sogar als Cybercrime-as-a-Service beauftragen, um erbeutete Daten abzuschöpfen.
Im Kontext des Angriffskriegs in Osteuropa gingen pro-russische Hacktivisten auch gegen Institutionen und Unternehmen in Deutschland vor, ohne jedoch nennenswerten Schaden bewirkt zu haben. Aus diesem Grund weiten wir unser Aufklärungsspektrum auch auf Akteure aus diesen Spektren aus. Insbesondere mit Blick auf Russland sind derartige Verbindungen zwischen Cybercrime und staatlichen Operateuren häufig diffus und unklar. Sie werden aber offenkundig vielfach toleriert, zumal wenn Daten abfließen, die im russischen Aufklärungsinteresse liegen.
Fakt ist, dass unser Land als Technologienation und potenter Wirtschaftsstandort, als einflussreiches Mitglied der Europäischen Union und NATO weiterhin das nachrichtendienstliche Ziel mächtiger Systemrivalen wie Russland und China sein wird. Ihre Toolbox umfasst eine ganze Palette an technisch anspruchsvollen Maßnahmen. Wir beobachten aggressive und agile Kampagnen wie etwa strategische Supply-Chain-Angriffe, die wir mit großem Aufwand detektieren und zuschreiben müssen.
Zudem sind die Übergänge zwischen Cyberspionage, Cybersabotage und illegitimer Einflussnahme fließend, wenn Daten gestohlen und im Rahmen von Hack-and- Leak-Operationen zu Desinformationszwecken eingesetzt werden. Wir betrachten deshalb die einzelnen Angriffsvektoren stets als Einzelteile eines größeren Puzzles, um den ganzheitlichen Ansatz unserer Gegner vollumfänglich aufzuklären. Die enge Zusammenarbeit mit deutschen Cybersicherheitsbehörden sowie internationalen Partnern ist dafür unerlässlich.
Die Zukunft aktiv mitgestalten
Aktuell faszinieren KI-gestützte Chatbots die breite Öffentlichkeit mit erstaunlichen Fähigkeiten. Der Take-off von Künstlicher Intelligenz und Quantentechnologie könnte die bisherige Digitalisierung zur bloßen Vorstufe einer Zukunft degradieren, in der neue Potenziale in nie gekannter Schnelligkeit und Drastik unsere Lebensrealität und Sicherheitslandschaft verändern. Das Bundesamt für Verfassungsschutz aktualisiert fortlaufend die Prioritäten und Kapazitäten seiner Cyber-, Spionageund Proliferationsabwehr, um den neuen Entwicklungen und Bedrohungen bestmöglich zu begegnen. Denn für die Souveränität und Sicherheit unserer Demokratie ist es existenziell, die Zukunft aktiv mitzugestalten, um nicht passiv mit den Folgen leben zu müssen.