Deutschland braucht eine Initiative für Industriewasserstoff
Der jüngst veröffentlichte Bericht des Weltklimarates lenkt den Blick auf das schwindende globale CO2-Budget und damit auch auf die Frage, wie das verbleibende Budget möglichst geschont werden kann, um Zeit für die Transformation zu gewinnen. Damit wird immer deutlicher, dass es beim Klimaschutz nicht nur um ambitionierte Langfristziele gehen muss, sondern auch um den richtigen Weg, der zu möglichst schnellen Wirkungen führt. Der Faktor Zeit wird immer wichtiger: Jede Tonne CO2, die heute eingespart werden kann, ist für die Eindämmung der Erderwärmung um ein Vielfaches entscheidender als die Tonne CO2, die erst in zehn Jahren eingespart wird.
Eine Schlüsselrolle für schnellen Klimaschutz kommt dabei der Industrie zu, die in Deutschland den zweitgrößten Teil an den Treibhausgasemissionen produziert. Einer der Hauptgründe ist der hohe Energiebedarf, das zeigt beispielsweise die Stahlindustrie: Sie ist nicht nur für einen großen Teil des Steinkohleverbrauchs verantwortlich, sondern stellt mit rund 35 Prozent Anteil am Gesamtabsatz auch das größte Marktsegment des deutschen Gasmarktes dar. Das macht die Industrie zum perfekten Einsatzort für Wasserstoff. Gas ist vor Strom der wichtigste Energieträger der deutschen Industrie und dort hauptsächlich aus drei Gründen im Einsatz:
Gas dient der Prozess-Wärmeerzeugung und kommt bei unterschiedlichen Produktionsverfahren zum Einsatz, die Dampf, heißes Wasser, Hitze oder Kälte erfordern. Dies macht einen Anteil von über zwei Dritteln des industriellen Erdgasabsatzes aus.
Zudem nutzt die Industrie Gas aber auch zur Stromerzeugung. In produktionsnahen Kraftwerken wandelt die Industrie 20 Prozent des von ihr genutzten Erdgases in Strom um. Der Anteil des in dieser Eigenstromerzeugung verwendeten Gases ist angesichts hoher Strompreise zuletzt weiter gestiegen. Insgesamt hat die Industrie 2019 rund 53 TWh Strom erzeugt, davon die Hälfte aus Erdgas. Hier werden zwar auch mehr erneuerbare Energien zum Einsatz kommen. Allerdings sind viele industrielle Prozesse auf einen konstanten Stromfluss angewiesen, den Wind und Sonne aufgrund der Witterung nicht garantieren können. Stromausfälle durch Dunkelflauten verursachen zudem erhebliche wirtschaftliche Einbußen, die dauerhaft nicht tragbar wären. Daher wird der Ausbau der Eigenstromerzeugung der Industrie im Gleichtakt mit der Entwicklung des Bezugs von grünem Strom erfolgen.
Und schließlich nutzt die Industrie Erdgas als Grundstoff, um vor allem Ammoniak, Wasserstoff oder Methanol herzustellen. Diese stoffliche Verwendung macht einen Anteil von 11 Prozent des Erdgasabsatzes aus. Ebenfalls als Grundstoff für diverse Chemikalien produzierte Deutschland im vergangenen Jahr Wasserstoff mit einem Energiegehalt von rund 57 Terrawattstunden. Ein Großteil wurde dabei mittels Dampfreformierung oder bei der Ethylenproduktion erzeugt. Beide Prozesse, bei denen sogenannter „grauer“ Wasserstoff produziert wird, basieren vorrangig auf Erdgas.
Das CO2-freie Gas Wasserstoff ist gleichzeitig das zentrale Element, um die Industrie künftig weiter zu dekarbonisieren. Er soll eines Tages anstatt fossiler Brennstoffe zum Einsatz kommen. Ein Beispiel für mögliche Anwendungen ist die Herstellung grünen Stahls. Deutschland produziert jährlich rund 45 Millionen Tonnen Stahl – wie eingangs beschrieben, meist mit einem hohen Kohle-Verbrauch in Hochöfen. Werden diese auf Wasserstoff umgerüstet, könnten pro Jahr etwa 43 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden.
Erhebliches CO2-Einsparpotenzial bietet auch die beschriebene Eigenstromerzeugung der Industrie. Sie basiert derzeit noch zur Hälfte auf Kohle und Erdöl. Schon ein sogenannter „Fuel Switch“ auf Erdgas würde CO2-Emissionen deutlich mindern, noch stärker wäre dieser Effekt bei einem Brennstoffwechsel auf Wasserstoff. Erste Anbieter haben bereits Kraftwerkstechnologien im Angebot, die auf Wasserstoff ausgelegt, also „H2-ready“ sind. Damit diese Vorhaben erfolgreich sind, muss die Politik jedoch noch stärker als bisher die Transformation energieintensiver Prozesse hin zu Wasserstoff unterstützen.
Damit insbesondere in der Anlauf- und Übergangsphase hinreichende Mengen bezahlbaren Wasserstoffs für die Industrie bereitgestellt werden können, wird es nötig sein, den zum Einsatz kommenden Wasserstoff weiterhin auch auf Basis von Erdgas herzustellen. Denn Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen wird noch lange Zeit rar und vergleichsweise teuer sein. Aufgrund des dadurch entstehenden Kostendrucks droht die Abwanderung energieintensiver Prozesse ins Ausland. Dies wäre nicht nur zu erheblichen Lasten des Wirtschaftsstandortes Deutschland, sondern käme auch einem massiven Rückschritt für den Klimaschutz gleich. Denn einerseits gelten in anderen Ländern meist deutlich weniger strenge Emissionsanforderungen, andererseits muss Deutschland aber auch beweisen, dass sein Modell der Energiewende wettbewerbsfähig ist und damit auch international eine Vorbildfunktion erlangen kann.
Erdgas kann dekarbonisiert werden und so bezahlbaren und in großer Menge verfügbaren Industriewasserstoff liefern, mit dem dennoch die Klimaziele erreicht werden können. Hierzu bietet die Technik mehrere Möglichkeiten.
So kann das bei der Dampfreformierung anfallenden Treibhausgas mittels des Carbon-Capture-and-Storage-Verfahrens (CCS) abgefangen und gespeichert werden. Das Verfahren ist in Ländern wie Norwegen oder den Niederlanden bereits seit Jahrzehnten im Einsatz, gilt als CO2-arm und hat den Praxistest bestanden.
Daneben gibt es hochmoderne Verfahren wie die Methanpyrolyse. Dabei wird nicht nur sehr effizient Wasserstoff hergestellt, der im Erdgas enthaltene Kohlenstoff fällt als Feststoff aus und nicht als gasförmiges Kohlenstoffdioxid. Der feste Kohlenstoff, auch als „Carbon Black“ bezeichnet, lässt sich in einer Vielzahl industrieller Prozesse weiterverarbeiten. Vor allem gelangt er als Feststoff nicht in die Atmosphäre.
Mittels dieser und weiterer effizienter Methoden kann Wasserstoff günstig, in ausreichender Menge und zeitnah für eine Vielzahl von industriellen Prozessen bereitgestellt werden. Der großflächige Einsatz von Wasserstoff ist unverzichtbar für eine grüne Industrie und ein klimaneutrales Europa. Erdgas bahnt klimaschonend den Weg dorthin, liefert die Basis für eine bezahlbare Transformation und hilft dabei, zügig große Mengen an Emissionen einzusparen. Wasserstoff zur Energie der Zukunft machen? Mit Gas geht’s!