Haftungsrisiken bei Zeitarbeit: Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz europarechtskonform?

Zeitarbeitnehmer haben nach dem Equal-Pay-Grundsatz Anspruch auf die gleiche Vergütung wie vergleichbare Stammarbeitnehmer im Einsatzbetrieb. Weit überwiegend macht die Branche von einer gesetzlichen Ausnahme Gebrauch, die eine niedrigere Vergütung für Zeitarbeitnehmer durch Tarifvertrag erlaubt. Über die Zulässigkeit dieser in der Praxis enorm wichtigen Abweichungsmöglichkeit vom Equal-Pay-Grundsatz wird nun der Europäische Gerichtshof entscheiden. Erkennt das Gericht einen Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union, drohen Personaldienstleistern wie Personal entleihenden Unternehmen gravierende Haftungsfolgen. Betroffene Unternehmen sollten den Gang der Rechtsprechung verfolgen und jetzt vorsorgende Maßnahmen treffen.

Gleichstellungsgrundsatz und tarifliche Abweichung

In der Zeitarbeit ist der Personaldienstleister nach § 8 Abs. 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) verpflichtet, dem Zeitarbeitnehmer für die Dauer der Überlassung die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen zu gewähren (Gleichstellungsgrundsatz). Der Zeitarbeitnehmer ist wie eine vergleichbare Stammkraft des Entleihers zu behandeln (equal treatment), insbesondere mit Blick auf die Vergütung (equal pay). Davon kann gemäß § 8 Abs. 2, 4 AÜG durch Tarifvertrag abgewichen werden. Eine abweichende Bezahlung der Zeitarbeitnehmer durch Tarifvertrag ist für die ersten neun Monate des Einsatzes zulässig. Wird ein Branchentarifvertrag angewendet, ist eine Abweichung über 15 Monate zulässig. Voraussetzung hierfür ist, dass nach 15 Monaten mindestens ein als gleichwertig definiertes Arbeitsentgelt erreicht wird und nach einer Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen eine stufenweise Heranführung an dieses Entgelt erfolgt. Das Modell ist weit verbreitet. Die mit Zeitarbeitnehmern abgeschlossenen Arbeitsverträge nehmen regelmäßig auf eines der Tarifwerke der Zeitarbeit Bezug, um den Gleichstellungsgrundsatz auszuschließen.

Verstößt die tarifliche Abweichung gegen Europarecht?

Die Zeitarbeit ist europarechtlich überformt. Nationale Regelungen müssen die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2008/104/EG (Zeitarbeitsrichtlinie) beachten. Nach Art. 5 Abs. 1 der Zeitarbeitsrichtlinie müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Zeitarbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Abweichungen von diesem Gleichbehandlungsgrundsatz sind allerdings nach Art. 5 Abs. 3 Zeitarbeitsrichtlinie in Tarifverträgen „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ zulässig. Seit Längerem in der Diskussion ist, wie der „Gesamtschutz“ zu verstehen ist und ob der deutsche Gesetzgeber diese Vorgaben verletzt hat, indem er im AÜG tarifliche Abweichungen zu Lasten der Zeitarbeitnehmer zugelassen hat. Bislang haben die Instanzgerichte das abgelehnt und konnten keinen Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union erkennen.

Vorlage an den EuGH

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Frage, inwieweit durch Tarifvertrag vom Equal-Pay-Grundsatz abgewichen werden darf, nun dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt (Beschluss vom 16. Dezember 2020 – 5 AZR 143/19 (A)). Im konkreten Fall wurde eine Zeitarbeitnehmerin von ihrem Personaldienstleister nach den Tarifverträgen bezahlt, die der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen mit mehreren Gewerkschaften des DGB geschlossen hat. Diese lassen eine Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz zu, insbesondere eine für die ersten neun Monate der Überlassung gegenüber Stammarbeitnehmern im Einsatzbetrieb geringere Vergütung. Die Zeitarbeitnehmerin verlangt dagegen ab dem ersten Tag der Überlassung die gleiche Bezahlung wie die Stammarbeitnehmer des Einzelhandelsunternehmens, in dem sie eingesetzt war. Die für sie einschlägigen Tarifverträge seien nicht mit Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie vereinbar. Das BAG hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH mehrere Fragen zum Gleichbehandlungsgrundsatz vorgelegt. Der EuGH soll insbesondere Klarheit darüber schaffen, wie die in Art. 5 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie verlangte „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ zu verstehen ist.

Folgen einer europarechtswidrigen Abweichungsmöglichkeit

Kommt der EuGH zu dem Schluss, dass § 8 AÜG nicht europarechtskonform ausgelegt werden kann bzw. gegen Europarecht verstößt, sind die Auswirkungen durchaus gravierend. Erteilt der EuGH der bisherigen Auslegung eine Absage, hätte das weitreichende Folgen für die gesamte Branche. Der Gleichstellungsgrundsatz wäre durch eine Anwendung der Tarifverträge zur Zeitarbeit nicht wirksam ausgeschlossen. Zeitarbeitnehmer könnten die Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes ab dem ersten Tag einer Überlassung fordern und ihren Arbeitgeber auf Nachzahlungen in Anspruch nehmen. Das würde auch für Zeiträume vor einer Entscheidung des EuGHs gelten. Abzuwarten bliebe, ob die zuständige Deutsche Rentenversicherung Bund im Rahmen von Prüfungen Sozialversicherungsbeiträge nachverlangt. Die Behörden könnten dem Personaldienstleister die Zahlung der Lohnsteuer sowie der Sozialversicherungsbeiträge des Zeitarbeitnehmers und des Personaldienstleisters auferlegen, die während der Überlassung hätten gezahlt werden müssen. Daneben könnten Säumniszuschläge treten.

Praxishinweise

Derzeit lässt sich nicht vorhersagen, wie der EuGH und nachgehend das BAG entscheiden werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die überzeugenden Argumente für die Zulässigkeit einer Ausnahme vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag weiter durchsetzen. Sowohl Personaldienstleistern als auch Personal entleihenden Unternehmen ist bis dahin zu raten, proaktiv Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass der EuGH die Ausnahme vom Gleichstellungsgrundsatz in § 8 AÜG ablehnt.

• Entleiher haften neben den Personaldienstleistern für nachzuentrichtende Sozialversicherungsbeiträge (§ 28e Abs. 2 SGB IV). Personal entleihende Unternehmen sollten sich nach Möglichkeit vertraglich gegen eine gegebenenfalls drohende Inanspruchnahme durch die Sozialversicherungsträger absichern, beispielsweise durch ein Einbehaltungsrecht bei der Überlassungsvergütung oder durch die Gewährung von Bankbürgschaften. Bestehende und zukünftige (Rahmen-)Verträge sind ergänzend auf Haftungsregelungen und Garantien zu untersuchen.

• Personaldienstleister sollten ihre Arbeitsverträge mit den Zeitarbeitnehmern und dort insbesondere die sog. Ausschlussfristen prüfen. Danach verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit geltend gemacht werden. Auch die Tarifwerke der Zeitarbeit enthalten solche Ausschlussfristen, die das Risiko von Nachforderungen der Zeitarbeitnehmer auf die letzten drei Monate begrenzen können. Umsichtige Personaldienstleister werden in Vorbereitung auf mögliche Gerichtsentscheidungen jedoch zusätzlich ihre arbeitsvertraglichen Ausschlussfristen prüfen. Durch gesetzliche Änderungen und neuere Rechtsprechung des BAG sind Ausschlussklauseln älteren Datums oft nicht wirksam vereinbart und sollten angepasst werden. Zudem kann vom Gleichstellungsgrundsatz aufgrund einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag nur dann abgewichen werden, wenn das jeweilige Tarifwerk für die Zeitarbeit vollständig und nicht nur teilweise anwendbar ist (BAG, Urteil vom 16. Oktober 2019 – 4 AZR 66/18). Das hat das BAG jüngst noch einmal bestätigt. Im Licht dieser Rechtsprechung sind Ausschlussfristen und sonstige Regelungen in den Arbeitsverträgen mit Zeitarbeitnehmern sorgfältig auf Abweichungen von den jeweils in Bezug genommenen Tarifverträgen zu untersuchen und sachgerecht anzugleichen.