Grüner Stahl: Ambitioniertes Vorhaben mit erheblicher Strahlkraft

Rasch steigende Zinsen und Preise verteuern die geplanten Investitionen in neue Anlagen. Drohende Lieferengpässe bei Erdgas sowie die bereits eingetretenen Kostenexplosionen erschweren den Einsatz dieser Brückentechnologie auf dem Weg zum per Wasserstoff klimaneutral erzeugten Stahl. Versäumnisse etwa bei der Digitalisierung behindern ein effektives und effizientes Projektmanagement. Trotzdem haben die Stahlunternehmen das Potenzial, ein Vorbild für Dekarbonisierung zu werden – wenn sie Schwachstellen gezielt ausmerzen und die richtige Unterstützung durch die Politik erhalten.

Nur wenige große Investitionsvorhaben in Industrieanlagen oder Infrastruktur bleiben voll im Kosten- und Zeitplan. Die Kunst eines erfolgreichen  Projektmanagements dieser umfangreichen Investitionen, ist es mit Flexibilität auf die ungeplanten Entwicklungen zu reagieren und dadurch Abweichungen gering zu halten. Die veränderten Rahmenbedingungen in der Stahlindustrie dürften derzeit aber vielen Beteiligten den Schweiß auf die Stirn treiben. Eigentlich streben die Unternehmen perspektivisch die Herstellung von grünem – also CO2-frei produziertem – Stahl durch den Energieträger Wasserstoff an. In einem Zwischenschritt soll zur Reduzierung der Klimagas-Emissionen in der Stahlproduktion statt Kohle mehr Erdgas und Strom zum Einsatz kommen. Europaweit laufen momentan circa 60 Vorhaben mit einem Investitionsvolumen von über 30 Milliarden Euro. Doch Corona-bedingte Störungen der Lieferketten und vor allem die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine stellen die Stahlunternehmen vor enorme Herausforderungen: Mittelfristig verteuern steigende Zinsen und Kosten die Investitionen in Wasserstoff-gestützt arbeitende Anlagen, kurzfristig droht die Preisexplosion bei Strom sowie Erdgas die Verringerung des Kohleeinsatzes und damit der CO2-Emissionen zu gefährden – der Börsenpreis für Strom hat sich innerhalb von zwei Jahren verfünffacht, der für Erdgas sogar verzehnfacht.

Die meisten Stahlkonzerne haben bereits individuelle Klimaziele definiert

Trotz der massiv verschlechterten Rahmenbedingungen ändert sich allerdings nichts am Ziel, künftig nur noch grünen Stahl zu produzieren. Per Green Deal macht die EU-Kommission  der Wirtschaft klare Vorgaben: Verringerung der Emission von Treibhausgasen um 55 Prozent bis 2030, Klimaneutralität im Jahr 2050. Die meisten Stahlkonzerne haben deshalb bereits individuelle Reduzierungsziele definiert und folgen damit zugleich den Anforderungen ihrer Kunden. Denn vom Autokonzern über den Hausgerätehersteller bis zur Baubranche müssen auch stahlverarbeitende Unternehmen den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte gemäß der EU-Vorgaben reduzieren. Außerdem wird die CO2-Bilanz von Waren zunehmend für Endkunden relevant. Dies macht die Verarbeitung von grünem Stahl unumgänglich und dürfte prinzipiell für eine zunehmende Nachfrage sorgen, die einen wirtschaftlich interessanten Markt schafft – wobei der Marktpreis wesentlich an der Zahlungsbereitschaft der Kunden hängt. Vor diesem Hintergrund gilt es, Businesspläne für geplante Investitionen den neuen Rahmenbedingungen anzupassen.

Ohne Unterstützung der Politik könnte der Umstieg auf grünen Stahl scheitern

Eine wichtige Rolle beim Umstieg auf grünen Stahl spielt die Politik, ihr Beitrag ist vor allem in drei Bereichen gefragt:

  • Erstens steht fest, dass Erdgas als Übergangsenergiequelle auf dem Weg zur klimaneutralen Stahlherstellung sich nicht ersetzen lässt, weil grüner Wasserstoff mittelfristig weder in der benötigten Menge noch zu akzeptablen Kosten verfügbar ist. Die Energieversorger können den Bedarf erst langfristig decken. Bis dahin muss gesichert sein, dass genug Erdgas von neuen Lieferanten zu bezahlbaren Preisen die nicht mehr aus Russland beziehbaren Mengen ersetzt. Damit verbunden ist auch die Hoffnung der Stahlindustrie, dass sich der Erdgaspreis mittelfristig unabhängig von finanzieller staatlicher Unterstützung auf einem tragbaren Niveau stabilisiert.
  • Zweitens erwartet die Branche spürbare Akzente bei der Förderung ihrer Investitionen seitens der EU sowie der Länderregierungen. Denn rein betriebswirtschaftlich gesehen dürfte sich ohne Subventionen kein (Groß-)Projekt in einem akzeptablen Zeitraum amortisieren. Aufgrund anzupassender Businesspläne und fehlender Subventionszusagen könnte sich daher der Start einiger Projekte verzögern. Erfreulich ist, dass wir bereits erste Zusagen seitens der Politik sehen
  • Drittens bauen die Stahlunternehmen darauf, dass der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) – kurz „Carbon Tax“ –  die künftig höheren Herstellungskosten des grünen Stahls in Europa gegen billigeren Importe ausgleicht. Mit dieser CO2-Steuer würde der mithilfe fossiler Rohstoffe billiger hergestellte Importstahl verteuert, was grünen europäischen Stahl im Heimatmarkt wettbewerbsfähiger machen könnte.

Auch die Stahlunternehmen müssen weiterhin ihre Hausaufgaben machen

Die Unternehmen müssen auch besser darin werden, wie sie ihre Transformation hin zur Herstellung von grünem Stahl vorantreiben. Denn die Umstellung der Produktionsverfahren auf die Elektrolichtbogenofen-Route zur Stahlerzeugung ist mit umfangreichen, komplexen Investitionen verbunden. Es müssen etwa neue EAF- und/oder DRI-Anlagen entwickelt und angeschafft, Stahlschrott- und Eisenerz-Terminals angepasst oder auch neue Strom- und Gasleitungen sowie Verteilstationen für den steigenden Energieverbrauch gebaut werden. Perspektivisch besteht zudem der Bedarf an eigenen Elektrolyse-Anlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff. Technologisch gesehen am anspruchsvollsten bleibt die Herausforderung des grünen Wasserstoffs, der kritisch für die Nutzung als Energieträger in den DRI-Anlagen und so für die Produktion von grünem Stahl zu akzeptablen Kosten ist. Solche Investitionen fordern die Stahlunternehmen nicht nur mit Blick auf die Kapitalausstattung der Investitionen sowie inhaltliche Komplexität und Abhängigkeiten heraus, sondern zwingen sie auch zum Handeln in weiteren Bereichen. So braucht es Lösungen dafür, dass

  • veraltete IT-Landschaften sowie fehlende digitale Tools vor allem in den Bereichen Projekt-Engineering und Construction Management der Effektivität und Effizienz schaden,
  • sich hochkomplexe Anforderungen an das Datenmanagement in der Realisierungsphase von Investitionsvorhaben mit bestehenden Strukturen und Prozessen sowie den aktuell genutzten Softwarelösungen vielerorts kaum erfüllen lassen,
  • durch knappe Ressourcen im Bereich Engineering sowie auf Seiten der Anlagenhersteller zeitliche Verzögerungen drohen,
  • für den Betrieb der zukünftigen Anlagen der Bedarf an Stahlschrott gesichert wird.

Antworten auf diese Herausforderungen brauchen alle Stahlunternehmen, unabhängig von ihrer Größe – aber stets individuell auf die konkrete Situation zugeschnitten. So dürften große Stahlkonzerne bei der Bestellung neuer DRI- oder EAF-Anlagen und der Infrastruktur zur Versorgung mit grünem Strom, Erdgas oder Wasserstoff einen Volumen-Vorteil gegenüber kleineren Wettbewerbern haben. Auf der anderen Seite sind Mittelständler oft flexibler und schneller bei der Entscheidungsfindung und Umsetzung ihrer Investitionsvorhaben. Zudem profitiert gerade bei der Infrastruktur häufig ein ganzer Standort oder die gesamte Region. Mittelständler aus vor- oder nachgelagerten Wertschöpfungsstufen oder der gleichen Region werden auf die Versorgungsinfrastruktur für diese Energieträger zurückgreifen. So können sie ihre eigene Dekarbonisierungsstrategie schneller und einfacher umsetzen.

Die Unterstützung der Beschäftigten für die Transformation ist groß

Gemeinsam ist allen Stahlunternehmen außerdem, dass sie die gesellschaftlichen Vorteile der Transformation aus Sicht einzelner Betriebe sowie der Branche überzeugend kommunizieren müssen – schließlich geht es unter anderem um bauliche Veränderungen etwa in Form von Stromtrassen, die viele Menschen im direkten und weiteren Umkreis betreffen. Sie sollten daher das übergeordnete Ziel hervorheben, mit dem Schritt zur Klimaneutralität durch grünen Stahl die Stahlstandorte und damit verbundenen Arbeitsplätze, kommunale Steuereinnahmen sowie lokale Industrie-Ökosysteme langfristig wettbewerbsfähig zu machen und zu sichern. In den Betrieben selbst, so die Erfahrung, begrüßen die Beschäftigten den Wandel. Er dient der Modernisierung des Produktionsprozesses und so der Sicherung der Unternehmenszukunft. Dies stößt insbesondere beim technischen Personal auf großen Enthusiasmus. Technologisch gesehen ist der Vergleich mit dem Wandel zum Elektroantrieb in der Autoindustrie treffend. Oft fließen Investitionen im Rahmen eines solchen Investitionsprogramms in nachgelagerte Produktionsstufen, beispielsweise zur Anpassung der Prozesse und Automatisierung, was das Gesamtwerk zukunftsfähig macht. Und nicht zuletzt kann die Stahlindustrie als Vorbild für die Dekarbonisierung der Wirtschaft dienen: Schafft sie trotz der damit verbundenen enormen technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen am Anfang der Wertschöpfungskette die starke Reduzierung der CO2-Emissionen, sollte das auch in nachgelagerten Kundenindustrien gelingen.